Das Leben ist Ausland

Melinda Nadj Abonji im Gespräch mit Sreten Ugričić

Sreten Ugričić, Philosoph, Bibliothekar, Autor von neun Büchern und gegenwärtiger Stipendiat an der Stanford Universität, arbeitet an einem einmaligen Projekt über Kunst, die sich selbst suspendiert. In Umkehrung von Marcel Duchamps „Readymade“, nennt Ugričić sein Vorhaben „Meadyrade“:
Was geschieht mit der Kunst, wenn sie von einer unwirtlichen, kranken, korrupten und bankrotten Imagination umgeben ist? Unter diesen Umständen tut die Kunst das Bestmögliche: sie bringt sich selbst zum Verschwinden – so Ugričić.

SAMSTAG 14. JUNI, 18 UHR, THEATER BASEL

DAS LEBEN IST AUSLAND präsentiert KROKODIL

Gäste: Vladimir Arsenijević, Daša Drndić, Sreten
Moderation: Melinda Nadj Abonji, Goran Potkonjak
Musik: Jurczok 1001
Gaumenfreude: Dario DeNicola

Der Verein KROKODIL und sein gleichnamiges regionales Literaturfestival wurden 2009 gegründet. Das erklärte Hauptziel von KROKODIL war und ist es, die Verbundenheit und den Austausch zwischen den Kulturen unterschiedlicher Länder zu fördern – gerade auch wegen dem gewaltsamen Auseinanderbrechen des ehemaligen Jugoslawiens in Nationalstaaten.

Mittlerweile hat KROKODIL mit seinem eigenwilligen Festivalkonzept und der Versammlung der spannendsten literarischen Stimmen in Exjugoslawien Kultstatus erlangt: Autoren und Autorinnen lesen in ihrer Originalsprache aus ihren Texten, die Übersetzung wird auf eine Leinwand projiziert. Zu den Texten werden Bilder gezeigt, die Künstler und VJs konzipiert und ausgewählt haben.

Im Centopassi werden Sie die Gelegenheit haben, die genaueren Hintergründe zu erfahren, warum KROKODIL gegründet wurde und in welchem kulturpolitischen Umfeld das Festival und der Verein sich heute bewegen. Darüberhinaus lesen Daša Drndić, Vladimir Arsenijević und Sreten aus ihren Texten; der Lyriker und Musiker Jurczok 1001 wird live intervenieren.

WELCOME KROKODIL!
Wir freuen uns auf Sie, auf Euch!

27. Oktober, 19 Uhr im Cento Passi, Stauffacherstrasse 119, hundert Schritte vom Helvetiaplatz entfernt.
Eintritt: 20.- CHF, mit Legi 15.-CHF

https://www.youtube.com/watch?v=oC5JBxuNfKs
https://www.youtube.com/watch?v=OtjWUD2m0F8
http://www.krokodil.rs

Jugo

Melinda Nadj Abonji & Jurczok 1001
Performance im Rahmen von „Wechselstrom“
Autorinnen aus Mittel- und Osteuropa auf Tournee
Roter Salon, Volksbühne Berlin
27. Oktober 2007

Ederlezi

Melinda Nadj Abonji & Jurczok 1001
Performance im Rahmen von „Wechselstrom“
Autorinnen aus Mittel- und Osteuropa auf Tournee
Roter Salon, Volksbühne Berlin
27. Oktober 2007

ANTI UTOPIE – UTOPIE

Lesung und Performance von
Sreten Ugričić, Melinda Nadj Abonji und Balts Nill
DONNERSTAG, 7. MÄRZ 2013, 19 Uhr 30
LITERATURHAUS ZÜRICH
Limmatquai 62
8001 Zürich
www.literaturhaus.ch
Sreten stellt seinen neuen Essay „Ähnlichkeit“ vor, den man nicht anders als bahnbrechend bezeichnen kann. Melinda Nadj Abonji und Balts Nill haben einige Texte von Sreten interpretiert. Hören Sie selbst, was das für Perlen sind.
Lesung und Performance finden auf Serbisch, Englisch und Deutsch statt, die Diskussion um Sretens Texte auf Englisch mit deutscher Übersetzung.


Melinda Nadj Abonji & Sreten Ugričić, 22.5.2012 © Goran Potkonjak

 

Wurstopfer. Von Melinda Nadj Abonji

Der 1. August ist nämlich hierzulande der Nationalfeiertag, es wird grilliert, Raketen werden abgefeuert, rot-weisse Girlanden zieren die Balkone – und was fällt mir dazu ein?

Dass wir auch grilliert haben, unsere Familie mit der Familie Rüegger am Rumensee, vor etlichen Jahren. Aber der Rumensee ist kein See, das müssen Sie wissen, sonst stellen Sie sich etwas Falsches vor, ein Tümpel also, grünlich-braunes Wasser, natürlich mit Enten, Blässhühnern und Fröschen zu gegebener Jahreszeit, Schilf, Seerosen (und einmal ein richtiger Pelz, Pelz und Tümpel, das geht gar nicht zusammen, der Rumensee, ein Ort, wo alle paar Jahrzehnte eine Reiche sich und ihr Elend im Wasser ertränkte), wir, damals, in bester Laune, weil 1. August war, was mir und unserer Familie in erster Linie einen freien Tag haben bedeutete.

Herr und Frau Rüegger hatten Fähnchen mitgebracht, die man ins Brot stecken konnte, und die Cervelat Wurst, sie musste an beiden Enden mit einem exakten Kreuz beschnitten werden, das zeigte uns Herr Rüegger, der die Wurst, den Fendant, die Brötchen, das Plastikgeschirr von seinem Versicherungs-Beamten-Geld bezahlt hatte und mithilfe seiner Frau – die er Lulu nannte – hatten wir gelernt, was eine „Hausfrau“ war, Lulu also hatte eingekauft, eine Familienpackung Pommes Chips, je zwei Cervelats für die Männer, je einen für die Frauen und die Kinder; ausserdem hatte sie eine Schüssel Hörnli-Salat vorbereitet und mit Alu-Folie abgedeckt, und meine Mutter lobte die Cornichons im Salat, die Silberzwiebeln, das Säuerliche, das dem Ganzen einen erfrischenden Geschmack gibt, vermutlich, um davon abzulenken, dass sie nie und nimmer kalten Nudelsalat machen würde (dann lieber ein Stück Brot und sonst nichts); aber heute, am Nationalfeiertag waren wir eingeladen, es gab keinen Grund mürrisch zu sein, Vergleiche anzustellen, die nirgend wohin führten, wir Kinder tranken Rivella rot, die Erwachsenen Fendant, und so wie es die Männer zu tun pflegen, haben auch Herr Rüegger und mein Vater Feuer gemacht, sie legten das Holz, das wir Kinder gesammelt hatten, bedächtig und aufmerksam zueinander (wie mir das immer auf die Nerven ging, dieses Feuer Getue: nein, das ist nicht das richtige Holz! das lange Warten, bis das Feuer kein Feuer mehr war, sondern endlich Glut) und: jetzt endlich konnten wir die Würste grillieren, einen Holzstecken mit beschnittener Wurst über die Glut halten. Und was dann geschah, ist die eigentliche Geschichte zum ersten August: Wir sassen und assen hungrig die Würste, dazwischen einen Bissen Brot, mein Vater, der plötzlich zu kauen aufhörte, meine Mutter anschaute, mit vollem oder halb vollem Mund, und es war nicht leicht zu erraten, was geschehen war, weil mein Vater nicht reden konnte oder wollte; er hatte einen Zahn verschluckt, einen seiner beiden vorderen Goldzähne und vermutlich fühlte er, dass da etwas anderes als ein Bissen Brot oder Wurst die Kehle runterrutschte, vielleicht stellte er sich auch vor, wie er aussehen würde, mit einem Goldzahn und einer Lücke. Komisch sah er aus, die Rüeggers lachten, wir alle lachten, als Vater den Mund aufmachte, und es war etwas im Lachen der Erwachsenen, das nicht mehr ganz anständig war, Lulus Tränen verschmierten ihre Schminke, Heinz, also Herr Rüegger, klopfte meinem Vater brüllend auf die Schulter, und mein Vater sagte etwas über den 1. August, auf Ungarisch, das an dieser Stelle unübersetzbar bleiben muss.

DAS LEBEN IST AUSLAND im Theater Neumarkt

28. October 2012, um 20 Uhr, Theater am Neumarkt, Chorgasse 5.

 

Die Lesung mit Ivana Simic Bodrožić ist aus familiären Gründen abgesagt.

Statt Ivana Bodrožić und Rayelle Niemann lesen und diskutieren der Autor László Végel und der Literaturkritiker Teofil Pančić. Beide leben und arbeiten in Novi Sad.

*** Eine einmalige Gelegenheit, zwei inspirierende Intellektuelle der Vojvodina kennenzulernen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen ***

Im Mittelpunkt des Abends steht der Text „Vertraute Fremde“ von Végel, den er für eine Anthologie verfasst hat und in dem er zwischen dem ungefährlichen, weil fernen Anderen und dem bedrohlichen Anders-Sein des „vertrauten Fremden“ unterscheidet: „Das andere und das Anders-Sein sind beileibe nicht ein und dasselbe: Über das andere kann man sich eine klare Meinung bilden, man weiss genau, ob es sich um einen Feind oder einen Freund handelt. Man weiss, mit wem man es zu tun hat. Das Anders-Sein hingegen ist rätselhaft und geheimnisvoll: Es flösst Angst ein, man macht sich schnell verdächtig, denn – um mit Rimbaud zu sprechen – man ist stets ein anderer, nie der, für den man sich ausgibt.“

László Végel, geboren 1941, schreibt Romane, Essays und Theaterstücke. Als Angehöriger der ungarischen Minderheit in Serbien ist er neben Danilo Kiš und Ottó Tolnai einer der großen Autoren der Vojvodina. Seinen ersten Roman veröffentlichte Végel 1967. Die „Memoiren eines Zuhälters“ waren, so Peter Esterházy, „ein Meilenstein für die moderne ungarische Literatur“.

Teofil Pančić, Jahrgang 1965, ist ein serbischer Literaturkritiker und Leitartikler. Er arbeitet für die belgrader Wochenzeitung „Vreme“. 2010 erhielt er den „Dusan Bogavac Preis“ für Mut und Ethik im Journalismus. Im gleichen Jahr wurde er aufgrund seiner entschieden anti-nationalistischen Positionen überfallen.

 

Die Chorgasse fünf ist ein kleiner Raum mit phantastischer Atmosphäre,

bitte benützen Sie deshalb unbedingt den Vorverkauf:

THEATERKASSE
T: +41 (0)44 267 64 64,
tickets@theaterneumarkt.ch

INFO & LINKS
www.theaterneumarkt.ch

 

DAS LEBEN IST AUSLAND im Theater Neumarkt

28. October 2012, um 20 Uhr, Theater am Neumarkt, Chorgasse 5.

Die zwischen Kairo und Zürich lebende Kuratorin Rayelle Niemann empfängt die junge kroatische Autorin Ivana Simić Bodrožić. Diese liest aus ihrem Debutroman „Hotel Nirgendwo“, der Geschichte einer Jugend inmitten der Lügen des Jugoslawienkrieges, zwischen Vertreibung und Nirvana-Kassetten.

Die Chorgasse fünf ist ein kleiner Raum mit phantastischer Atmosphäre,

bitte benützen Sie deshalb unbedingt den Vorverkauf:

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Die neue Verfassung


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Im Juli 2012 hat Radio DRS zwanzig Beiträge zum Thema „Ideen für die Schweiz“ gesendet. Sreten Ugričić und Melinda Nadj Abonji haben in ihrem Beitrag die Präambel der Schweizerischen Bundesverfassung modifiziert.

 

Präambel der Schweizerischen Bundesverfassung – Original

Im Namen Gottes des Allmächtigen!

Das Schweizervolk und die Kantone,

in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung,

im Bestreben, den Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken,

im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben,

im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen,

gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen,

geben sich folgende Verfassung:…


Modifizierte Präambel der Schweizerischen Bundesverfassung

Im Namen der Vorstellungskraft und der Wirklichkeit!

Alle, die in der Schweiz leben, alle Kantone und Spezialitäten, Kuchen und Würste, alle Berge, Bahnen, Banken, Bäder, alle Kinder, Higgs-Bosonen, Naturwunder, Frauen und Männer, alle Fabriken, Büros, Dächer und Häuser, Haustiere und Tiere, insbesondere alle Vögel,

in der Verantwortung gegenüber allem, was existiert – was um uns und in uns und in unserer Vorstellungskraft existiert –

im Bestreben, Frieden, Freiheit und Demokratie zu stärken, die Unabhängigkeit und den Nationalismus zu schwächen, um solidarisch und offen gegenüber der Welt zu handeln, im Bewusstsein, dass wir alle winzige Sterne im Universum sind,

im lebendigen Bemühen, Ähnlichkeit und Verwandtschaft untereinander wahrzunehmen, um so Verständnis und Vertrauen zu ermöglichen, um Hierarchien zu vermeiden,

im Eingeständnis, dass die gegenwärtige Gemeinschaft, so, wie sie ist, Anteilnahme und Hinwendung erfordert, im Bewusstsein der Verantwortung also gegenüber Kindern und Kirschen, Piloten und Nonnen, Büchern, schwarzen Löchern, Orbits, Sprüngen und Gedanken,

gewiss, dass nur frei ist, wer seine oder ihre Freiheit in Anspruch nimmt, die Stärkeren sich beispielsweise um das Wohl der Schwächeren kümmern, um die Kranken und Verletzten, Hungernden, Hilfe suchenden, um die Pusteblumen, Spinnweben, um Staub und Wolken, insbesondere um die Papierlosen,

geben sich folgende Verfassung:…

Nachsatz

Die vorliegende modifizierte Präambel ist in keiner offiziellen Sprache der Schweizerischen Konföderation geschrieben und verfolgt nur ein utopisches Ziel. Demzufolge besitzt sie vollumfängliche gesetzliche Gewalt.

Premiere DAS LEBEN IST AUSLAND

22. Mai 2012, um 20 Uhr 30, Theater am Neumarkt, Chorgasse 5.

Sreten (Belgrad) liest aus seinem neuen Roman “An den unbekannten Helden”.
Jurczok 1001 stellt den Gast künstlerisch vor.
Das Publikum begrüssen Goran Potkonjak und Melinda Nadj Abonji.

Die Chorgasse fünf ist ein kleiner Raum mit phantastischer Atmosphäre,
bitte benützen Sie deshalb unbedingt den Vorverkauf:

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„An den Unbekannten“. Von Melinda Nadj Abonji

Wir stellen uns natürlich immer jemanden vor, vorstellen, stellen Sie sich einen Mann mittleren Alters vor, einen reifen Mann, Raureif, Ehering, er ist also seit vielen Jahren verheiratet, ein begnadeter Frühaufsteher, der seiner Frau Kaffee kocht, bevor er sie verlässt, um zur Arbeit zu spazieren, er hat Zeit, mit jedem Schritt wird sein Kopf klarer, Weidmann heisst er, seinen Vornamen kennen wir nicht, aber heute ist der 16. Januar 1971, zweite Monatshälfte, denkt Herr Weidmann, immer noch Rückstau nach den Feiertagen, Aufholungsbedarf wegen Feiertagsrückstau, und er fühlt die Wärme in seinem Mantel, Herr Weidmann in der menschenleeren Stadt, Stille, weil die Strassenbahnen noch nicht fahren, es liegt etwas Schnee, Schaufeln sind nicht nötig, aber vorsichtige Schritte, Ausrutschgefahr am Seilergraben, nur leicht abschüssig, der Gehsteig, Bürgersteig, genau deshalb ist Vorsicht geboten, und Herr Weidmann sucht nach dem passenden Wort, für die dunklen Hauswände in der Kälte, stattdessen fällt ihm seine Erregung, sein vergeblicher Versuch wieder ein, nicht hier, hat seine Frau gesagt und auch nicht anderswo, hat sie bestimmt gedacht, und Herr Weidmann ist auf der Couch eingeschlafen, nicht hier, nicht anderswo, nicht hier, nicht anderswo, und Herr Weidmann setzt einen Fuss vor den anderen, Gefühlsgraben, Glücksgarten, er ist aufgewacht, hat hastig einen Rest Käse und Wurst in sich hineingestopft, bevor er sich zu seiner Frau hingelegt hat, die lautlos schlief, und er weiss, dass er etwas Bestimmtes gedacht hat, aber was? und Herr Weidmann bleibt ruckartig stehen, schaut nach hinten, Spuren im Schnee, seine Schreibmaschine fällt ihm ein, Schreibmaschinenvorfreude, seine Olympia erwartet ihn
ich bin auf deinem Arm
ich kann nicht untergehen
steht fett auf einer Häuserwand, sinnloser Satz, denkt Herr Weidmann, falsches Bild eines kopflosen Schmierers, und er schlägt seinen Mantelkragen hoch, setzt sich wieder in Bewegung, Richtung Neumühlequai, wo das massige Gebäude der Kantonalen Verwaltung steht.

Warum sollten wir uns nicht die Freiheit herausnehmen, uns jemanden vorzustellen? einen Mann stellen wir uns vor, der im Kaspar-Escher-Haus, in seinem aufs Wesentliche reduzierte Büro sitzt, einen Brief tippt, fingerle, nennt er diese Tätigkeit, die ihm eine ausserordentliche Ruhe verschafft, man spannt einen Bogen ein, studiert nochmals die Akten, setzt sich wieder ordentlich hin, richtet die Brille, lässt die Hände auf der Olympia ruhen (draussen wird es hell, es schneit immer noch) man ist Herr Weidmann, der augenlos zum Fenster blickt, weil er sich konzentriert, darauf, dass sein Hirn sich maximal in den Fingern sammelt, Hirn-Hände-Bündnis (Herr Weidmann gehört zu den Menschen, die Startschüsse und den Moment danach lieben – Pferde, die mit ihren Reitern schnaubend aus ihren Boxen schiessen, die geballte Kraft, wenn die Sprinter nach dem Knall von Null auf Hundert beschleunigen). Jetzt! ja sicher, ein Beamter ist eine Art Sportler, beide Tätigkeiten beruhen auf ausgeprägten Prinzipien.

16. Januar 1971

Sehr geehrter Herr Fluri

Mit Ihrer Zuschrift vom 9. Januar 1971 ersuchen Sie um die Wiedererwägung unserer Verfügung vom 29. Dezember 1970 betreffend die Einreise der beiden jugoslawischen Kinder Miladinka und Petko zum Verbleib bei den Eltern in Männedorf. Der Kindsvater befindet sich seit dem 28. Juli 1969 in der Schweiz. Anlässlich der Zulassung der Mutter hat sich Ihr Arbeitnehmer verpflichtet, auf den Nachzug der beiden Kinder zu verzichten, solange die Voraussetzungen hierfür nicht erfüllt sind.

Hätte ich keine Grundsätze, würde ich für die Monatsangaben einmal Zahlen verwenden, dann wieder würde ich sie ausschreiben, wo wäre da die Logik? wo kämen wir da hin? Ein Grundsatz ist eben mehr als ein ästhetisches Prinzip, denkt Herr Weidmann, obwohl es nicht ganz unwesentlich ist, dass eine Zahlenhäufung unschön aussieht und ausserdem die schnelle Erfassung dessen, was mitgeteilt werden soll, erschwert, Zahlenanhäufungstumult, und Herr Weidmann streckt seine Finger, prüft seine Nägel, natürlich ist ein Beamter hinter den Kulissen tätig, ein unermüdlicher, stiller Wirker. Herr Weidmann räuspert sich, zieht seine Hände von den Tasten und seine Brille von der Nase, stützt sich auf den Tisch, steht auf, streift mit einem Blick das Familienfoto, gerahmt, genau gerichtet, der Sportler hingegen sieht sich immer wieder mit der Öffentlichkeit konfrontiert, was sicher auch seine Vorteile hat, und Herr Weidmann merkt erst jetzt, dass er aufgestanden ist, vor dem Fenster steht, ehrlich gesagt hätte er auch das Zeug zum Sportler gehabt, ein Radfahrer hätte aus ihm werden können! Ich war wirklich gut, sagt er zu den sanft mit Schnee bedeckten Platanen, zur Limmat, die grau vor sich hinfliesst, aber: es war eine klare Entscheidung.

Wir stellen uns einen Menschen vor, versuchen, wenigstens ein paar Gänge seiner Gedanken nachzuvollziehen, dieser Mensch, Herr Weidmann, wird bei der Erinnerung dessen, was von seiner Anlage her auch aus ihm hätte werden können, nicht wehmütig, das Vergessen erachtet er für eine sehr nützliche, menschliche Eigenschaft, nicht so die Vergesslichkeit, die man in seinem Beruf mit allen nur erdenklichen Mitteln zu bekämpfen hat, demzufolge macht er sich auch keine Gedanken, warum er sich ausgerechnet heute daran erinnert, dass er sich bis zu seinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr vor allem um sein Training, seine Ernährung, seine Ausrüstung und physische Konstitution gekümmert hat. Eine klare Entscheidung ist das halbe Leben, denkt Herr Weidmann und sieht zwei Blässhühner, die sich auf der Limmat treiben lassen, was erstaunlich ist, weil man sie im Winter oft nur in Gruppen sieht (und er öffnet das Fenster, um sie besser zu sehen) diese beiden kleinen dunkel gefiederten Wasservögel, die auf dem eingezwängten Fluss so unverschämt schön aussehen, der weisse Schnabel, das ebenso weisse Schild auf der Stirn, die Doppelung, ein perfektes Paar, dazu die kompakten Flocken, und Herr Weidmann lehnt sich aus dem Fenster, hört die hellen Rufe der Blässhühner aus seiner Kindheit, erinnert sich an den plötzlichen Kopfsprung, wenn eines der Tiere überraschend schwungvoll abtauchte, die Wetten mit seinem Bruder, wie lange es wohl dauern würde, bis der Vogel wieder auftauchte, und Herr Weidmann, dessen Haar weiss geschmückt ist, lehnt sich noch weiter aus dem Fenster, weil das Paar aus seinem Blickfeld verschwunden ist, und fast überkommt ihn die Lust, auf die Fensterbank zu klettern, sich auf Zehenspitzen nach ihm zu strecken, aber stattdessen fällt Herrn Weidmann eine Eigenschaft des Flusses auf, seine Gefrässigkeit, die unzähligen schönen Schneekristalle, die von der Limmat vertilgt werden, auf Nimmerwiedersehen im Flusswasser verschwinden, und Herr Weidmann versteht nicht, warum ihn das in diesem Moment ärgert, es ärgert ihn so sehr, dass ihm ein etwas unbeholfener Fluch entfährt, und weil ihm vom plötzlichen Ärger und von der unerwarteten Äusserung heiss wird, zieht er seinen Wollpullover über Hals und Kopf, merkt erst jetzt, dass seine Haare nass sind, sein Gesicht feucht, Herr Weidmann rupft an den Ärmeln, flucht wieder, diesmal weniger unbeholfen, er tut es so laut und kräftig, dass wir ihn hören: InZukunftwerdeichmirverdammtnochmalmeinePulloverselberkaufen!
Und Herr Weidmann schliesst das Fenster mit einem lauten Knall (dieser Tag fängt an, ihn von Grund auf zu nerven) er dreht sich um, fährt sich mit den Handflächen übers Gesicht und die Stirn, schliesst kurz die Augen, um sich dann entschlossen wieder an den Tisch zu setzen.
Die Hände liegen besonnen auf der Olympia – wo war er stecken geblieben? – bevor sie erneut schreiben, und er spürt, wie die Buchstaben seinen Körper durchwandern, wie der kontinuierliche, mechanische Rhythmus wieder eine angenehme Ruhe in ihm entstehen lässt.

Wir bedauern, Ihnen keinen besseren Bescheid geben zu können, und grüssen Sie mit vorzüglicher Hochachtung
Fremdenpolizei des Kantons Zürich
Weidmann

Und wir stellen uns natürlich nicht vor, dass Herr Weidmann den Brief an den Metzgermeister Fluri so beendet, sondern wir wissen es, dies, nachdem er folgendes getippt hat:

Die Zulassungsfrist für Angehörige von ausländischen Arbeitskräften aus entfernteren Ländern beträgt drei Jahre. In Anbetracht der gegenwärtigen Ueberfremdung unseres Landes und des grossen Zuwanderungsdruckes von Angehörigen ausländischer Arbeitskräfte sind vorzeitige Familienzulassungen nicht vertretbar. Sofern die Kinder in Jugoslawien nicht mehr ordnungsgemäss untergebracht und betreut werden können, müsste der Mutter nahe gelegt werden, zu diesem Zwecke in ihre Heimat zurückzukehren. Im Hinblick auf die rigorosen Massnahmen gegen die Ueberfremdung können persönliche oder humanitäre Gründe leider keine Berücksichtigung mehr finden.

Herr Weidmann unterschreibt, nachdem er seinen Namen getippt hat, mit Kugelschreiber, das heisst, er tut es, indem er seinen getippten Namen überschreibt, seine Hand, die sich in raschen Schwüngen bewegt, nachdoppelt, bekräftigt.
Wenn wir aber genauer hinsehen, rollen sich die ununterscheidbar ineinander geschwungenen handschriftlichen Buchstaben zu einem stachligen Draht aus – Bis hierher und nicht weiter! Das Übertreten dieser Grenze führt Sie ins gefährliche Gebiet der Vorstellungskraft!

P.S. Auf dem Fluss waren nicht nur zwei Blässhühner zu sehen, sondern auch ein kleines, mit farbigen Lichtern ausgeleuchtetes Tanzschiff, auf dem sommerlich gekleidete Paare innige Kreise drehten. Ja, mitten im Winter.

“rien ne va plus”.

geh mal ein Stück vor, Jugo

Serbo oder Kroate, Tito, lange tot

sauber ein Sprache ist

dein Nase und Mund zu gross ist

für Sprache, Bürgersteig, Gehsteig

du anpassen, nicht drängeln

ein Gehsteig nicht nebeneinander gehen

mit sieben Kinder, Jugo, hast viel Sonne

im Schwanz, Verhütung, hör mal Jugo

viel Kinder ist wie Tier, aber du nicht

Tier, weil Sprache

capito?

Der Text bezieht sich auf eine Zeitungsnotiz im Tages-Anzeiger. Darin steht unter anderem, dass die italienische Autorin Oriana Fallaci den Immigranten vorwirft, sich „wie Ratten zu vermehren“.

Von Melinda Nadj Abonji. Für Sreten Ugričić.

In: Süddeutsche Zeitung. 30 Januar 2012

Sreten Ugričić, Schriftsteller, Philosoph, Astronom, Konzeptkünstler, bis vor kurzem Leiter der serbischen Nationalbibliothek, las im vergangenen Dezember, am St. Nikolaustag, im Zürcher Theater Neumarkt. Er stellte seinen Essay „Das Leben ist Ausland“ vor, den er für die Leipziger Buchmesse 2011 geschrieben hatte. Vorstellen, das klingt trocken, langweilig, das Gegenteil davon ist wahr. Es war ein geistreicher, anregender Abend. Das Zürcher Publikum agierte ungewohnt, es beteiligte sich rege, wurde nicht müde, obwohl der Abend schlussendlich zweieinhalb Stunden dauerte. Nach Sretens Besuch habe ich mich umgehend entschieden, eine neue Veranstaltungsreihe ins Leben zu rufen, mit dem Titel „Das Leben ist Ausland“. Ich habe Sreten geschrieben, ihm mitgeteilt, dass ich ihn, als Namensgeber meiner neuen Reihe, auch gern als ersten Gast einladen würde, diesmal, um seinen Roman „An den unbekannten Helden“ vorzustellen. Er antwortete mir mit folgender mail: „Last few days I am in all media here, main news, because my Government wants to kick me out from the library. Minister of Police (who was in nineties among the closest assistants of Slobodan Milošević) yesterday told to journalist that I must be put in prison immediately because I support the assassination on our president Tadić. What can I tell you.“

Natürlich habe ich überhaupt nichts begriffen. Zurückzuschreiben, zu fragen, das war unmöglich. Die Hektik und Dringlichkeit in diesen wenigen Zeilen verrieten, dass Sreten sich um anderes kümmern musste, als um mich, meine Besorgnis, meine Frage, was genau geschehen war. Ich fing an, wie verrückt im Internet zu suchen, nach seinem Namen, und ich wurde fündig: Ein paar Stunden nach Sretens mail konnte ich auf einer website lesen, dass er inzwischen als Direktor der Nationalbibliothek entlassen worden war. Nach einer dringlichen Telefonkonferenz der Regierung sei dieser Beschluss gefasst worden, hiess es. Dass der Kulturminister, der einzige, der wohl für Sreten eingetreten wäre, an der Konferenz nicht beteiligt war, habe ich erst später erfahren.

Wie ist es also dazu gekommen, dass man Sreten entlassen hat, der während Jahren die Nationalbibliothek so geleitet hat, dass sie mittlerweile eine internationale Reputation geniesst? Dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von ihm sagen, er habe nicht nur technische Erneuerungen initiiert, sondern die Zusammenarbeit und den Dialog grossgeschrieben und gefördert?

Aus Anlass des zwanzigjährigen Bestehens der „Republika Sprska“, eines Teilstaats Bosniens, wurde am 9. Januar eine feierliche Veranstaltung in Banja Luka angesetzt. Politische Repräsentanten der Republik Serbien, Präsident Boris Tadić, Premierminister Mirko Cvetković und Innenminister Ivica Daĉić, kamen nach Banja Luka, um an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Am Vorabend entdeckte die Polizei im Kellergeschoss der Sporthalle, in der die Veranstaltung geplant war, ein Arsenal von Waffen, Munition und Sprengstoff.

Der montenegrinische Parlamentarier und Autor Andrej Nikolaidis schrieb am 11. Januar in einem online Medium einen polemischen Kommentar zu diesem Anlass, ironisch könnte man ihn auch nennen, stellenweise sogar unüberlegt. Mit Blick auf die  Entstehungsgeschichte der „Republika Srpska“, die auf Mord und Vertreibung beruhe, stellt Nikolaidis die Frage, ob man, falls der Sprengstoff explodiert wäre, dies nicht als „zivilisatorischen Fortschritt“ betrachten könnte. Die Belgrader Presse, allen voran die regierungsnahe „Politika“, zitierte genau diesen einen Satz aus Nikolaidis Text (der übrigens auf www.e-novine.com nachzulesen ist), von dem sie sicher sein konnte, dass die Öffentlichkeit empört, ja hysterisch darauf reagieren würde. Das zu Erwartende trat ein, die aufgeheizten Schlagzeilen übertrafen sich, Nikolaidis wurde als Terrorist gehandelt.

Aufgrund dieser Hetze sah sich das „Forum of Writers“ dazu veranlasst, einen Aufruf zu veröffentlichen, in dem entschieden für die freie Meinungsäusserung eingetreten wurde und damit auch für den persönlichen Schutz von Nikolaidis. Die „Fatwa“ der Medien gegen Nikolaidis müsse aufgehoben werden, heisst es. Stattdessen solle sein Text im Wortlaut publiziert werden, damit sich die Leser selbst ein Bild davon machen könnten. Diesen Aufruf hat auch Sreten Ugriĉić unterschrieben und damit nahm die Medienhetze eine neue Richtung; das Boulevardblatt „Press“ titelte: „Das gibt es nur in Serbien: Nationalbibliothekar unterstützt Ermordung von Präsident Tadić“.

Die Reaktion von einigen Mitgliedern der serbischen Regierung folgte unmittelbar: Sreten müsse als Direktor der Nationalbibliothek sofort zurücktreten. Dem Innenminister Ivica Daĉić reichte das nicht. Er plädierte dafür, dass man Sreten ins Gefängnis werfen solle, weil er den Terrorismus unterstütze – Ivica Daĉić, der übrigens während der letzten Jahre von Miloŝevićs Herrschaft Vorsitzender der Sozialistischen Partei war, sich nie öffentlich und explizit von den Entscheidungen, welche die politische Elite des serbischen Staates zu dieser Zeit getroffen hatte, distanziert oder dafür irgendwelche Verantwortung übernommen hat.

Warum, so kann man sich fragen, wird dem Leiter der Nationalbibliothek so viel unliebsame Aufmerksamkeit zuteil?

Sreten wurde vor zehn Jahren von Zoran Djindjic zum Direktor der Nationalbibliothek berufen. Er blieb, auch nach dessen Ermordung, im Amt, modernisierte die Bibliothek, machte sie, wie bereits erwähnt, zu einer angesehenen, gut besuchten kulturellen Institution. Angefeindet wurde er ständig, stetig. Und dies sicher auch, weil seine Reden und literarischen Texte elektrisieren, die Worte vor Energie leuchten – das, was das Zürcher Publikum sofort bei seiner Anwesenheit gespürt hat: Hier spricht einer, der scharf denkt, kritisch ist gegenüber jeder Form von Macht, fähig ist, die Dinge anders, das heisst, neu zu denken. Sretens Poetik, die ausserdem einer tiefen Menschlichkeit verpflichtet ist, indem sie den Menschen für mündig erklärt. Ja natürlich, das ist die grösste Gefahr für alle autoritären, zynischen Köpfe, die Wörter wie Demokratie, Verfassung, Freiheit missbrauchen, um im gleichen Atemzug einen Menschen als Terroristen zu verhetzen, der mit seiner Arbeit, seinem Denken nichts anderes getan hat als für ein freies, offenes Serbien einzutreten.

In einer öffentlichen Rede im Belgrader Kulturzentrum sagte Sreten: „A warning to the police from a library terrorist: in the hall of the CCB there will be an explosion – not of a bomb, but of all of us present. And we shall win. Because, as you know: whoever attacks writers with a nightstick is defeated and hated from the start; while the one who reads – wins!“

Nachtrag (6. März 2012):

Obwohl zahlreiche Institutionen und Einzelpersonen gegen den Beschluss der serbischen Regierung protestiert haben, obwohl etliche internationale Medien (NZZ, Süddeutsche Zeitung, la liberté, DRS 2, website der Biennale Berlin etc.) berichtet haben, wurde der Entscheid nicht rückgängig gemacht. Bereits wenige Tage nach Ugriĉićs Entlassung fing dessen Nachfolger mit seiner Arbeit an. Sreten selbst hat mittlerweile bei der Nationalbibliothek einen marginalen Job bekommen – die Regierung war gesetzlich dazu verpflichtet, ihm in der Bibliothek eine neue Arbeit anzubieten – in seinem Büro an der Peripherie der Bibliothek muss Sreten miterleben, wie zahlreiche, von ihm initiierte Projekte rückgängig gemacht, seine engsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entlassen werden. Die Situation ist für Sreten so unerträglich geworden, dass er beschlossen hat, längere Zeit im Ausland zu leben und zu arbeiten. Von der Landis & Gyr Stiftung in Zug und vom Zürcher Literaturhaus hat er ein Aufenthaltsstipendium erhalten, das heisst, ab Mitte März wird Sreten für mehrere Monate in der Schweiz sein.

“100%”. Von Melinda Nadj Abonji

für zwei Stimmen

 

ich will das

ich will das da

sieht gut aus da

an mir sieht’s gut aus

es sieht natürlich aus an mir

100%

Baumwolle, ein Glücksfall

Made in Italy

Italien hat Tradition

Geschmack meinst du

Sinneskultur

Sonne und Lebensqualität

Genuss, Schönheit, ja du

sieht wirklich gut aus da

an mir wirkt’s légère

leggiero, die Italiener haben uns was voraus

Italien, ich komme

Venezia im Frühling, ein Traum

ein klassischer Schnitt

aber nicht langweilig

im Trend, aber nicht

sexy, aber nicht cheap

und das, was ist das da, beim Schlitz?

schau dir das an, schade

ich kann’s nicht lesen

aber sauschöne Schrift

chinesisch

oder japanisch

oder koreanisch

sagenhafte Schrift

eine Schriftkultur haben die!

schau mal, Made in Taiwan, Made in Italy

internationale Produktion

was meinst du, Schlitz in Taiwan?

(Gelächter)

die chinesische Mauer, mein alter Traum

oder jobben in Japan

oder ein Buddhist sein in

spottbillig das Kleid

25.90

zum Glück, ein Glückstag heute

sieht wirklich gut aus an mir

steht mir ausgezeichnet

ZU HAUSE IN DER FREMDE – VERSUCHE ZUR INTEGRATION.
Von Melinda Nadj Abonji.

Zu

Zu Hause

Zu Hause in

Zu Hause in der Fremde

Zu Hause in der Fremde – Versuche

Zu Hause in der Fremde – Versuche zur Integration

Ein Spiel, Sätze zu zerpflücken, um ihre vielfältigen Deutungsmöglichkeiten hörbar zu machen, oder schärfer formuliert: ein hintersinniges Spiel, weil die Satzikone, im Staccato gesprochen, einstürzt und ich in ihren Trümmern alles andere als Sicherheit und Klarheit vorfinde, die der Satzfluss gerade noch suggeriert hat. Die Frage der Perspektive aber stellt sich mir unverrückbar: Von welchem Standpunkt soll ich erzählen? Soll ich überhaupt erzählen? Legt dieser subjektlose, verbfreie Titel nicht nahe, dass berichtet wird, über jene, die in einem fremden Land zu Hause sind und sich zu integrieren versuchen? Oder heisst “Versuche zur Integration”, dass man etwas über die Einheimischen erfahren wird, die sie, die Fremden, zu integrieren versuchen? Die Bedeutungs-Unschärfe oder Deutungsvielfalt des Satzes ist typisch für Sätze, die kein Subjekt und kein Verb haben, dafür gespickt sind mit Begriffen, die emotional aufgeladen sind und einander schmerzhaft bis feindlich oder zumindest etwas wehmütig gegenüberstehen wie “zu Hause” und “Fremde”.

Der Begriff “Integration” schliesslich ist genauso unscharf (wie eben die meisten Begriffe, die im politischen Diskurs in Schwung gehalten werden), der Begriff birgt aber, wie Mark Terkessidis in seinem Buch “Interkultur” treffend formuliert hat, stets eine negative Diagnose: “Es gibt Probleme, und die werden verursacht durch die Defizite von bestimmten Personen, die wiederum bestimmten Gruppen angehören. Der Ausgangspunkt ist dabei immer die Gesellschaft, wie sie sein soll, und nicht die Gesellschaft, wie sie ist.”

Lassen Sie mich also nochmals anfangen und in den Titel meines Essays meine Person und ein Verb einfügen.

“Zu Hause bin ich in der Fremde – Versuche zur Integration”, und ich beginne mit einer kleinen Geschichte.

Du bist ein Baum – woher kommst du?

Im Kindergarten hatte ich eine liebenswürdige Lehrerin: sie hat mich als Tannenbaum verkleidet, eine braune Hose, ein dunkelgrüner Filzhut für den Kopf, vermutlich hat sie auch mein Gesicht grün geschminkt, ich sollte eine Rolle haben, im Schneewittchen, und zwar als Tannenbaum, ich stand da und sah den Zwergen zu und natürlich dem schönen Schneewittchen, aber was anderes als ein Tannenbaum hätte ich sein sollen, da ich kein Deutsch, sondern “nur” Ungarisch sprach? Meine Lehrerin versuchte mich zu integrieren, ins Spiel, wie man heute sagen würde, und ich? Ich schämte mich in meinem Baumkostüm, schämte mich für meine Stummheit, dafür, dass ich bloss dastand, was in meiner Erinnerung eine Ewigkeit dauerte, aber den Unterschied hatte ich ziemlich genau begriffen, zwischen den Zwergen, dem Schneewittchen und dem Baum. Ich weiss auch nicht mehr, ob es noch andere Bäume gab; ich jedenfalls stand einen Baum, und diese kleine Geschichte, die fast schon eine lustige Anekdote geworden ist, ist meine erste Erinnerung daran, dass ich mich ausgeschlossen fühlte, und ironischerweise wurde dieses Gefühl von Ausgeschlossensein von einer Lehrerin herbeigeführt, die ganz bestimmt eine gegenteilige Absicht hatte.

Ziemlich sicher hatte ich als fünfjähriges Kind nur einen brennenden Wunsch, nämlich den, so zu sein wie alle anderen; ich wollte nicht unbedingt Schneewittchen sein, aber doch ein Zwerg. Ausserdem wollte ich um nichts in der Welt die weisse, an den Ärmeln und am Kragen farbig bestickte Bluse tragen; ich wehrte mich also gegen folkloristische Kleidung, nicht nur, weil die anderen nichts derartiges trugen (und das habe ich schon im Kindergarten registriert, als das Tragen der “richtigen” und “falschen” Kleider noch nicht Teil der Hackordnung war), sondern, weil ich merkte, wie wichtig diese Staffage für meine Eltern war.

Damals hätte ich es zwar sprachlich nicht fassen können, aber trotzdem wusste ich genau, dass der Unterschied zwischen Baum und ungarischem Bauernmädchen nur ein geringer war, dass beide das Produkt waren von Bemühungen, “etwas” aus mir zu machen, das ich nicht sein wollte. Vielleicht war das der Grund, dass ich an meinem ersten Fasching in der Schweiz meine Umwelt zumindest leicht irritierte: ich verkleidete mich in eigener Regie, stopfte mir ein voluminöses Kissen unter ein langes, rotes Gewand, setzte mir eine Krone auf, verbarg mein Gesicht unter der Maske einer alten Frau, und mein Accessoire war ein Staubwedel, und auf die Frage meiner Mutter, wer ich denn sei, zuckte ich bloss mit den Schultern.

Einen ähnlichen, ausschliessenden Effekt hatten später Fragen wie “woher kommst du?”Diese Frage wurde mir meistens gestellt, wenn jemand meinen Namen geschrieben sah oder ich meinen Familiennamen nennen musste – die Frage nach dem Namen und der Herkunft sind die ersten Fragen eines Verhörs, das habe ich spätestens nach der Lektüre von Elias Canettis Masse und Macht begriffen -, und ich sah oft in erstaunte Gesichter, wenn ich verraten hatte, woher ich kam, aus Jugoslawien?

Wenn ich nun differenziert von meiner Herkunft zu erzählen anfing, dass ich nämlich aus der Vojvodina stammte und dass in diesem Gebiet, das die Kornkammer Serbiens genannt wurde, zahlreiche Volksgruppen lebten, nämlich Serben, Slowaken, Kroaten, Ruthenen, Rumänen, Bunjewatzen, Schokatzen, Sinti und Roma, Deutsche, Bulgaren und ausserdem Ungarn, zu deren Volksgruppe meine Familie gehörte, wenn ich nun das Stichwort “Ungarn” und “ungarische Muttersprache” geliefert habe, entspannte sich das Gesicht meines Gegenübers und in meinem Gesicht wurden die breiten Wangenknochen erkannt, in meinen Adern musste feuriges Blut fliessen, mein Gegenüber schwärmte von der Puszta, überhörte mit einer anmutigen Penetranz, dass ich weder die Puszta kannte noch die tollen Thermalbäder in Budapest, sein Ohr war taub für die Tatsache, dass das kommunistische Regime in Ungarn mit dem sozialistischen in Jugoslawien nur in beschränktem Masse vergleichbar war.

Worauf ich hinaus will: die Frage nach der Herkunft ist sehr oft ein paternalistischer Akt. Der Fragende bindet den Befragten an das Land seiner Herkunft, wobei die Differenzierung keinen Platz hat, es soll nicht zu kompliziert sein, und ein vertraut erscheinendes Stichwort ist Anlass genug, um die Bilderwand im eigenen Kopf zu bestätigen. Habe ich die Frage “woher kommst du” mit “aus Zürich, aus dem Kreis 4” beantwortet, dann wurde oft lachend nachgehakt, “ja schon, aber woher kommst du ursprünglich?”

Ursprünglich war ich in einem winzigen, weissen Haus mit Dachboden, Innenhof, Hühner- und Schweinestall, Miststock und Garten zu Hause; meine Herkunft ist an meine Grossmutter geknüpft, eng und unauflösbar, und als ich zu meinen Eltern in die Schweiz gekommen bin, habe ich nicht Jugoslawien verlassen oder Zenta, sondern meine Grossmutter, ihr Haus und ihre Lebenswelt. Das ist die korrekte Antwort auf die Frage nach meiner ursprünglichen Herkunft. So konnte ich aber erst antworten, nachdem ich meinen Roman “Tauben fliegen auf” geschrieben hatte; so klein und konkret kann man erst antworten, wenn man sich eine Sache grundsätzlich überlegt hat. Ich war, um es nochmals zu betonen, von meiner Grossmutter geprägt, von der Art, wie sie kochte, wie sie Brot abschnitt, das Wort “Haus” – “ház” bedeutete ihr Haus, ein ebenerdiges Haus mit einem grossen Korridor, in dem wir die Suppeneinlagen zum Trocknen auslegten, und zum Haus meiner Grossmutter gehörte ein Innenhof, das Wort “Haus”, also “ház”, war insofern untrennbar mit einem Innenhof verbunden (ein Haus, das sich nach innen öffnet, wie Klaus Merz es in seinem Gedicht “Grenznah” so wunderbar formuliert hat).

Wozu erzähle ich Ihnen das? Weil ich Ihnen zeigen möchte, was der Satz “zu Hause in der Fremde” für mich als kleiner Mensch bedeutete, damals, als ich noch nichts von Nationen und Grenzen wusste. Womöglich kannte ich die Wörter “Jugoslawien” und “Schweiz” bereits, aber sie hatten keine Bedeutung, sie waren leer. Sehr konkret hingegen war – neben der Erfahrung, dass ich mich eine ganze Weile nicht verständigen konnte –, dass die schweizerdeutschen Wörter nichts mit den ungarischen Wörtern zu tun hatten: das schweizerdeutsche Haus war mehrstöckig, hatte einen Vorplatz, und in den Treppenhäusern waren rote Blumen mit Blättern, die sich pelzig anfühlten, auf Fenstersimsen aufgereiht; vor allem aber war das schweizerdeutsche Haus ausgehöhlt, und diese Höhle, in der die Autos standen, wurde “Garage” genannt.

Aus heutiger Perspektive habe ich also damals die Erfahrung gemacht, dass man die Wörter nicht übersetzen kann; “ház” wurde zwar mit “Haus” übersetzt, aber das, was “ház” ausmachte, fehlte beim “Haus”. Natürlich hätte ich auch sehen und empfinden können, was “ház” und “Haus” miteinander teilten: ein Dach, die Fenster und Türen, Wohnräume. Aber die Unterschiede waren für mich offenbar bedeutender.

Lesen, Glücksdeutsch

In der Primarschule lernte ich, mithilfe eines Setzkastens, schreiben. Ich fügte die verlangten hochdeutschen Wörter zusammen, mit erstaunlicher Leichtigkeit, konnte sie aber dann nicht lesen, und meine Lehrerin stand vor einem Rätsel. Und nicht nur sie. Ich kann es mir heute noch nicht erklären, weshalb ich mit einer Verzögerung von mindestens einem halben Jahr zu lesen angefangen habe. Aber als ich es endlich konnte, habe ich gelesen, gelesen und nicht mehr aufgehört. In der Dorfbibliothek lieh ich mir die Bücher aus und fing an, mich auf Hochdeutsch mit mir zu unterhalten. Hochdeutsch gefiel mir, es war die Sprache der Bücher, und ich tauchte ein in eine gänzlich neue Welt, die nur mir gehörte. Die ungarischen Wörter mussten sich zu Hause bewähren und bewahrheiten: mit meinen Eltern und Geschwistern sprach ich Ungarisch; im Alltag ausserhalb der Familie war das Schweizerdeutsche gefragt. Hochdeutsch aber war ein offenes Feld. Es schien in meinem Kopf zu entstehen, beflügelte meine Phantasie (ein Wort wie “murmeln” beispielsweise), und dass ein Teil des Schulunterrichts auf Hochdeutsch abgehalten wurde, störte mich nicht, im Gegenteil: ich fühlte die Scham meiner Mitschülerinnen und Mitschüler, Hochdeutsch zu sprechen. Intuitiv merkte ich wahrscheinlich, dass sie jetzt eine neue Sprache lernten, eine Erfahrung, die ich schon hinter mir hatte.

Hochdeutsch war demzufolge mein grosses Glück, in dieser Sprache konnte ich nochmals neu anfangen, und ich vermute, dass ich in dieser Zeit, während der zweiten oder dritten Klasse, auch die Gemeinsamkeiten der Sprachen empfinden konnte.

Zwischenstopp: der Satz “zu Hause bin ich in der Fremde” hat zunächst einmal nichts mit mir zu tun, sondern mit den anderen, die mich als Fremde haben wollen. Der Versuch, anzukommen, da zu sein, wo man ist, wird mit der ständigen Rückbindung an das Land, das man verlassen hat, erschwert. Die Erzählung, dass man gar nicht an ein Land gebunden ist, sondern an eine Person und deren Lebenswelt, ist eine Realität, die dem Mythos des Volkes und der Nation nicht dienlich ist, aber zumindest der Wirklichkeit meiner Geschichte nahe kommt. Als ich in die Schweiz kam, hatte ich meine Lebenswirklichkeit verloren, und wichtiger, integraler Bestandteil dieses Verlustes war jener der ungarischen Sprache. Von einem stummen Kind verwandelte ich mich dann in ein lesendes, das Erlernen des Hochdeutschen, der Sprache der Bücher, war ein wichtiger Einschnitt in meinem Leben: ich hatte eine Sprache gefunden, die mich beflügelte. Und wahrscheinlich war das Hochdeutsche dafür verantwortlich, dass ich anfing, mich zu Hause zu fühlen.

Alice im Wunderland

Von der vierten bis zur sechsten Primarschule hatte ich einen Lehrer, dessen Lieblingsspiel das folgende war: er stellte eine Rechenaufgabe. Wenn man die Lösung nicht wusste, musste man aufstehen, wenn man die Lösung beim zweiten Mal auch nicht wusste, musste man sich auf den Stuhl stellen und schliesslich, beim dritten Mal, auf den Tisch. Es waren immer dieselben Schüler, die am Schluss auf dem Tisch standen, schämt euch, sagte der Lehrer. Manchmal schlug er auch zu. Der Lehrer hatte einen guten Ruf, er galt als “streng”, und ich hatte Glück, weil ich seine nach rechts drängende Schrift fast perfekt imitieren konnte – es machte ihn rasend, wenn man anders schrieb als er – und weil ich zu den Besten der Klasse gehörte. Der Lehrer riet meinen Eltern trotzdem, mich nicht aufs Gymnasium zu schicken, ich sei noch zu klein, so argumentierte er. Ich war tatsächlich die Kleinste der Klasse. Die Schülerinnen und Schüler, die seiner Meinung nach reif genug waren fürs Gymnasium, stammten alle aus reichem Haus, und der Lehrer bereitete sie in Extrastunden auf die Übertrittsprüfung vor. Für mich war dennoch klar, dass ich die Prüfung wenigstens versuchen wollte, und ich traf mich zum Lernen mit einer Schulfreundin – übrigens die Grösste der Klasse –, welche vom Lehrer auch nicht für förderungswürdig gehalten wurde; sie hatte ein hohles Kreuz, so wie er, und ihre Mutter war geschieden, eine Tatsache, auf die der Lehrer in Schulstunden immer wieder hinwies.

Als ich irgendwann später eine Stelle aus “Alice im Wunderland” las, kam es mir so vor, als würde mir jemand in wenigen Sätzen erklären, was die Essenz dieser drei Schuljahre gewesen war: “Wenn ich ein Wort verwende”, sagte Humpty-Dumpty, ziemlich von oben herab, “dann hat es genau die Bedeutung, die ich ihm gebe. Nicht mehr und nicht weniger.” “Die Frage ist nur”, sagte Alice, “ob du Wörtern die Bedeutung von so vielen verschiedenen Dingen geben kannst.” “Die Frage ist”, sagte Humpty-Dumpty, “wer der Herr sein soll. Das ist alles.”

Warum sind Kinder ausländischer Familien an Gymnasien immer noch eine Seltenheit? Die Einwanderer kümmerten sich nicht um die Bildungschancen ihrer Kinder, so heisst eine gängige Antwort. Gerade die Familien, die kulturell benachteiligt und Opfer der sozialen Ungleichheit sind, glaubten am stärksten daran, dass Begabung und Tüchtigkeit die einzig Ausschlag gebenden Faktoren für den Schulerfolg seien, schreibt der Soziologe Pierre Bourdieu – was sicher nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Ich bin aber davon überzeugt, dass in der Institution Schule immer noch zahlreiche Ausgrenzungen stattfinden. Kinder, die sprachliche Schwierigkeiten haben, werden gerade von Lehrpersonen, die mit Mehrsprachigkeit keine Erfahrungen haben, oft als dumm und unbegabt abgestempelt – und manche Lehrer scheinen immer noch nicht begriffen zu haben, dass jedes Fach sprachlich vermittelt wird. Eltern, die in der Gesellschaft privilegierte Positionen haben, treten gegenüber einer Lehrperson selbstbewusst auf, wogegen nichts einzuwenden ist, ausser, wenn es die Lehrperson derart beeinflusst, dass sie das betreffende Kind in der Folge anders behandelt.

Obwohl ich nicht zur richtigen und wichtigen Schicht gehörte, wurde aus mir eine Gymnasiastin, und zwar eine, die sich mittlerweile darüber im Klaren zu sein schien, dass sie “von woanders” herkam, und meine beste Freundin war Griechin. Nach der Matura würden wir beide in unsere Heimat zurückkehren; meine Freundin hatte sich in Griechenland verliebt, sie würde also einen Griechen heiraten und mit ihm, wie sie mir versicherte, mindestens fünf Kinder haben. Mein damaliger Freund war ein Schweizer, ein Adoptivkind aus Sizilien, was mich aber nicht weiter beschäftigte. Ob nun mit ihm oder ohne ihn: ich würde mit achtzehn in die Vojvodina zurückkehren und meiner Freundin Briefe schreiben. Wir hatten etwas vor, das sich von den Plänen unserer Mitschüler fundamental unterschied, die nämlich wollten in die Welt hinaus, um beruflich weiterzukommen. Wir wollten zurück in die Welt unserer Kindheit, und wenn uns jemand gefragt hätte, was wir denn da tun würden, hätten wir vermutlich geantwortet: leben.

Diese nebulöse Vorstellung vom anderen Leben; sie war plötzlich da und bei mir vielleicht nur deshalb, weil ich meine Eltern damit irritieren konnte. Auf die Art und Weise gab ich ihnen nämlich zu verstehen, dass ich ihren damaligen Entschluss, aus Jugoslawien auszuwandern, zumindest in Frage stellte; hätten sie zu jenen Ausländern gehört, die als “Gastarbeiter” nur darauf hin arbeiteten, in ihr Herkunftsland zurückzukehren, wären sie vermutlich stolz auf meinen Plan gewesen.

Nun könnte der Eindruck entstanden sein, dass meine Freundin und ich uns als Exotinnen stilisierten. So war es aber nicht, im Gegenteil: wir fügten uns unauffällig ins Klassengefüge, waren beliebt, gehörten bei Gruppenspielen zu den erstgewählten, wir lasen Kafka und waren fix, wenn es darum ging, die Zunge an angesagte Wörter zu gewöhnen wie “fuck”, “geil”, “Stresschopf”, und manchmal war es meine Freundin oder ich, die ein neues Wort auf die Umlaufbahn schickte, “ist das nicht mad?”, sagte die eine und die andere setzte die richtige Miene auf, “doch, das ist absolut mad!”

Nur wenn wir zu zweit waren, änderten sich unsere Themen: wir assen zwar gefüllte Weinblätter oder gefüllte Paprika und träumten uns in unsere Heimatländer, aber viel wichtiger war, dass aus uns eine Art Selbsthilfegruppe im Kleinstformat wurde, das heisst, wir beratschlagten uns sehr konkret über unsere Alltagsprobleme: beispielsweise über die Schwierigkeit, mit unseren Eltern zu streiten, da die gemeinsame Sprache fehlte; über banale, rassistische Äusserungen tauschten wir uns aus; über unsere Funktion als Übersetzerinnen, wenn es um amtliche Briefe ging, die an unsere Eltern gerichtet waren und die auch für uns schwer verständlich waren etc. etc.

Allein dieser Austausch wies schon darauf hin, dass wir mitten drin steckten, in unserem Leben in der Schweiz nämlich, und so wurden wir achtzehn, und es geschah nichts weiter, ausser dass wir uns an der Zürcher Universität einschrieben, an der Philosophischen Fakultät I.

Sprachexplosionen – sich absetzen vom Vertrauten

Plötzlich tauchte das Schreiben auf. Ich hielt mich damals, gerade fünfundzwanzig geworden, in Graz auf, hatte ein Forschungsstipendium am Franz Nabl Literaturinstitut. Es war Hochsommer und ich einsam; die Stadt, vor allem aber das Institut, wirkten auf mich wie ausgestorben. An einem Nachmittag lag ich rücklings im Freibad, gab mich in schläfriger Aufmerksamkeit meiner Umgebung hin. Dann ereignete sich das, was man den Stein des Anstosses nennen könnte: Ein kleiner Junge schubste mich, sprach mich ganz selbstverständlich an, komm schon, wir tauchen! Ich war ziemlich irritiert, ich kannte den Jungen ja nicht, niemanden, wochenlang hatte ich nur mit der Wurstverkäuferin ein paar Worte gewechselt. Doch bevor ich lange nachdenken konnte, war der Junge ins Wasser gesprungen, spritzte in meine Richtung, in seinen Augen war so viel Lebendigkeit, dass ich mich unmöglich weigern konnte. Am gleichen Abend schrieb ich wie von selbst ein paar Zeilen auf, berührt von dieser Kinderseele, die mich eingeladen hatte, an ihrer Welt teilzuhaben.

Während meinen Lizentiatsprüfungen, vier Jahre später, packte mich dann eine fiebrige Schreiblust, aus Wut über die schulisch-bieder abgehaltenen Prüfungen und die Noten, die plötzlich wieder verteilt wurden: ich wachte auf, hatte Wörter auf der Zunge wie “Glücksschere”, ich stand auf, schrieb kurze Geschichten, eine mit dem Titel “der Mann ohne Hals”. Ich verballhornte wissenschaftliche Begriffe; im Namen des “Fluchtforschers Paul Plan” und der “Stabilitätstheoretikerin Nana Wennschon” schrieb ich den Prüfungsexperten und Professoren einen Brief, in dem ich die Qualität der jeweiligen Prüfungssituation einer grotesk-surrealen Bewertung unterzog, was mir bei einem telegenen Professor den Titel “Miesmacherin” eintrug. Ich jedenfalls fühlte mich mit meinen Sprachexperimenten als Solo-Aktivistin, ich wollte mich absetzen von Floskeln, Sprachschablonen und schulte mein Ohr für alle Zwischentöne des gesellschaftlich etablierten Kulturschutts. Bei der Besprechung meiner Lizentiatsarbeit sagte mir Herbert Gamper, einer der wenigen, die ich an der Uni respektierte, dass meine Arbeit keine wissenschaftliche sei, ich solle schreiben, meine Lizentiatsarbeit sei in weiten Teilen literarisch geschrieben.

Fremd gehen – mit der Sprache

Die Frage nach meiner Herkunft habe ich in jüngster Vergangenheit mit “eine ungarische Serbin, die in der Schweiz lebt”, beantwortet. Diese Bezeichnung ist so präzise, dass sie in Bezug auf nationalstaatliche Einengungen unüberhörbar ironisch ist, sprachlich jedoch ist sie ein Bekenntnis zur Mehrsprachigkeit und, um noch ein bisschen weiter zu gehen, ein Bekenntnis zur Vielstimmigkeit, die ich in meinem letzten Roman herauszuarbeiten versucht habe.

Mit Leidenschaft habe ich ungarische Redewendungen ins Deutsche übertragen. Schlechte Laune haben heisst dann, der Tag muss heute ohne mich auskommen, oder: heute habe ich die Laune eines alten Hundes.

Bei Marieluise Fleissers Prosa war von bayrischer Diktion die Rede, mir würde gefallen, wenn man, in Analogie dazu, bei meiner Prosa von Jugo-Diktion und finno-ugrischer Diktion, von mehrsprachiger Polyphonie spräche; mir ist daran gelegen, dass man meine Figuren hört, wie sie sprechen, egal, wo sie herkommen. Es scheint mir nichts als logisch zu sein, dass ich als Dichterin den Leuten auf Maul schaue, und ich freue mich, wenn ich spitzmäulige Münder sehe, die “Chrüsimüsi” sagen oder “chrümschele”. Ich habe auch keinen Schweissausbruch allein wegen der Tatsache, dass man im Hochdeutschen “Gemüse putzen” und nicht “Gemüse rüsten” sagt. Wegen meinem österreichischen Verlag haben sich sogar ein paar österreichische Wendungen in meinen Text geschlichen: die Toilette ist “angeschissen” und nicht “verschissen”, und dies allein aus dem Grund, weil mir die “österreichische Art” diese Tatsache auszudrücken, plastischer und insofern besser erschien.

Trotz meinem Interesse am mündlichen Ausdruck, an der Figurenrede, habe ich eine Kunstsprache kreiert, nicht zuletzt auch deshalb, weil ich nicht weiss, wie ich das Stammeln, mehrfach abgebrochene Sätze, und vor allem das Schweigen und rollende Augen aufs Papier bringen soll.

Als Kunstsprachliebende klopfe ich nun Wörter ab – warum sollen Begriffe wie “Balkankrieg” fraglos existieren, als gehörte Balkan und Krieg fast schon auf eine natürliche Art zusammen. Ich schreibe Sätze wie “ich ärgere mich, über sie, die ich bin”, und man könnte schlussfolgern, dass ich mit dieser Art von Sprachbewegung einen Entfremdungsprozess auf den Punkt bringe.

Es liegt also auf der Hand, dass mich Begriffe wie “Helvetismus”, “Austriazismus” etc. mehr als irritieren. Ich habe nämlich kein Sprachideal (ausser vielleicht, dass es schön ist, beglückend, wenn Sprache, das Sprechen, hartnäckiges Schweigen durchbricht). Ich bin zugegebenermassen mehr als vorsichtig, wenn man eine sprachliche Klassengesellschaft herstellen möchte – immer noch! –, ich habe nichts übrig für eine deutsche Sprachleitkultur, ich liebe, wie schon gesagt, Färbungen, Tonalitäten. Dein Deutsch klingt wie Ungarisch und untergründig höre ich eine schweizerdeutsche Melodie, sagte meine Schwester über mein Schreiben, und das habe ich als Kompliment verstanden.

Migration, Fremdsein, Anpassung, Integration – das sind alles Begriffe, die ich in meinem Text gar nicht oder nie unkommentiert gebraucht habe. In der Rezeption des Romans tauchen sie sehr häufig auf.

Zum Abschluss: der Stuhl sieht uns

Ich plädiere nicht nur für eine sprachliche Polyphonie, sondern auch für eine Gesellschaft, die deren Vielfalt anerkennt. Ich distanziere mich vom Begriff “Integration” und von altbackenen Integrationskonzepten, die eine Anpassungsleistung der ausländischen Bevölkerung an die einheimische verlangen; die defizitär abgestempelten Ausländer sollen Sprachkurse besuchen, sich schulen im Wissen um “einheimische Werte”. Hierbei ist natürlich unklar, wo gerade der perfekte Durchschnittsdeutsche rumspaziert, der dem patriarchalen, ausländischen Vater zum idealen Vorbild gereicht. Migrationskinder sind per definitionem prügelnde Jungs oder passive, Kopftuch tragende Mädchen, wenn sie nicht bilinguale Kinder sind, die “unsere Gesellschaft” bereichern, wie neulich eine Schweizer Wochenzeitung titelte und damit einmal mehr, auch wenn es positiv gemeint war, die Differenz zwischen einem “wir” und den “anderen” festgeschrieben hat. “Unsere Gesellschaft” existiert nicht und hat noch nie existiert, davon gehe ich aus, und dass in der Schweiz, einem international verflochtenen Kleinstaat, eine straff organisierte, Ressentiments schürende Truppe den Ton angibt, Ressentiments gegen die Ausländer schürt (jüngstes, sprechendes Beispiel: die “Ausschaffungsinitiative”) und dabei demokratische Grundwerte aushöhlt – das ist alles andere als beruhigend, und dabei ist die Schweiz nur ein Beispiel für die gegenwärtigen Ideologen, die rückwärts in die Zukunft rennen wollen.

Lese ich den Satz “zu Hause in der Fremde” schliesslich nochmals, mit einer kleinen Pause, dann wird dem “zu Hause” umgehend das “Fremde” nahe gelegt, benachbart: das eigene zu Hause wird ein fremder Ort. Ist das möglich, denkbar, nachdem man doch alle Möbel kennt, die Küchengeräte, die Menschen, die im eigenen zu Hause ein- und ausgehen. Kennt man sich selber, in den eigenen vier Wänden, wie man so schön sagt, kennt man sich selber, wie man den Besen schwingt, ein Ei aufschlägt, spürt man seine Beine jeden Tag gleich an dem Ort, den man so gut zu kennen scheint?

Und wenn ich mit meinem kleinen Sohn durchs dunkle Schlafzimmer husche und er zu mir sagt: Komm Mami, schnell, der Stuhl sieht uns!, dann lache ich spontan, bin im zweiten Moment irritiert über die vollkommene Selbstverständlichkeit, mit der mein Kind dem Stuhl zutraut, uns zu sehen, doch drittens führt es mich ganz nahe zu dem, was eben in diesem Halbsatz, “zu Hause in der Fremde”, mit einer kleinen Pause gesprochen, drin steckt, nämlich zur Möglichkeit, dass man sich in der eigenen Wohngegend nicht mehr auskennt –, Kinder führen uns sehr ernsthaft und verspielt in einem die eigene Wohnung neu vor, in der alles beseelt erscheint, die Verben springen über, bevölkern nicht mehr nur das Reservat des Menschen: der Stuhl sieht, das Fenster schläft, der Wasserhahn weint, die Lampe lämpelt (Verben werden pausenlos generiert, um dieses komplexe Gebiet zu benennen), die Luft stellt alle Werkzeuge bereit, die fürs hingebungsvolle Spiel notwendig sind, eine imaginäre Linie auf dem Holzboden markiert die Grenze zwischen Strand und Meer etc. etc.

Natürlich, es ist eine Reise, auf die mich der kleine Mensch wieder einmal mitnimmt, die Einladung, die Dinge neu zu entdecken, sie von der Last des Vertrauten zu befreien, und ganz unerwartet bin ich damit bei der Etymologie des Wortes “fremd” angekommen: fremd ist eine Adjektivbildung zum Germanischen fram-, und bedeutet “fern von”, “weg von”, heute noch präsent im Englischen “from”. Durch die Etymologie des Wortes “fremd” wird einsehbar, dass nur die erste Bedeutung “fern von” konkrete, geografische Orte impliziert, nicht aber “weg von”, das in meinem Verständnis eine Bewegung zum Ausdruck bringt. Nicht “abweichend vom Vertrauten”, sondern “weg vom Vertrauten” heisst “fremd” also ohne die moralische Wertung. “Weg vom Vertrauten” – eine Bewegung, die ich beim Schreiben als elementar empfinde, um überhaupt ein anderes Seelengebiet als das eigene zu erkunden; mit der Sprache gehe ich fremd, um die Vielstimmigkeit der Figuren hörbar zu machen.

In: Sprache im Technischen Zeitalter. Hg. v. Norbert Miller und Joachim Sartorius . Heft Nr. 198. Juni 2011.

Heimat

1. WAS BEDEUTET HEIMAT FÜR SIE?

Die Atmosphäre meiner Kindheit.

2. GLAUBEN SIE, DASS EIN MENSCH MEHRERE HEIMATEN HABEN KANN?

Da mein Begriff von Heimat für eine kollektive Mystifizierung nicht taugt, muss ich ihn auch nicht pluralisieren, um der einseitigen, national-territorialen Auslegung des Begriffs zu entgehen. Heimat ist singulär, einzelmenschlich, meine Heimat.

3. KANN MAN AUS EINER HEIMAT WEGGEHEN UND SIE TROTZDEM IN SICH TRAGEN?

Ich habe mein Heimatland verlassen. Meine Heimat suche ich immer wieder auf, bemühe mich um sie, im Schreiben und in der Musik. Ich trage die unermüdliche Sehnsucht nach Verständigung in mir.

4. WELCHE DINGE, GERÜCHE, KLÄNGE ETC. VERBINDEN SIE SELBER MIT DEM BEGRIFF HEIMAT?

Den weichen Singsang meiner Grossmutter, das nächtliche Gequake der Frösche, die Schweine, wenn sie aus ihren Schweinchenaugen blinzeln, das aufgeregte Gegacker eines Huhnes, bevor es geschlachtet wird. Die Nachtviolen, die Aprikosenrosen. Derbe Flüche. Die unerbittliche Sommersonne und dazu der Geruch nach gedünsteten Zwiebeln. Meinen strengen Onkel, der plötzlich aufsteht und tanzt…

5. GIBT ES EINE HEIMAT, DIE SIE SICH WÜNSCHEN WÜRDEN?

Meine Utopie ist einfach und konkret: in meiner zukünftigen Heimat soll es Luft und Wasser geben, damit alles weitere weiterhin möglich bleibt.

6. SIND SIE IN DER SCHWEIZ ZUHAUSE ODER EHER DAHEIM?

Ich lebe in der Schweiz, mit einem Teil meiner Familie, meinen Freundinnen und Freunden. Wir sind, wie man heute so schön abschätzig sagt, eine richtige Multi Kulti Gemeinschaft.

7. “HOME IS WHERE THE HEART IS” SAGT MAN IM ENGLISCHEN. STIMMEN SIE DEM ZU?

Ich habe mein Herz nicht verloren. Sun Ra hat den Satz Space is the Place geprägt und für das vorliegende Thema lege ich ihn so aus: das Universum bietet genügend Platz, die Heimat jedes Einzelnen zu sein.

©interview with Melinda Nadj Abonji, 2009, never published.


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Words by Sreten, voice Melinda Nadj Abonji, music Balts Nill.

“A warning to the police from a library terrorist: in the hall of the CCB there will be an explosion – not of a bomb, but of all of us present. And we shall win. Because, as you know: whoever attacks writers with a nightstick is defeated and hated from the start; while the one who reads – wins!”