Zwei Ausschnitte aus “Elf Thesen über Bach”. Von Sreten.

Jean-Luc Godard sagt: „Durch Kunst ist es uns möglich, uns umzudrehen und Sodom und Gomorrha zu sehen, ohne daran zu sterben.
“ Wenn jemand fragt: na gut, das mag etwas mit Serbien zu tun haben, aber was hat es mit Bach und den Deutschen zu tun, heute, im Jahre zweitausendelf nach Christus? Eine diplomatische Antwort könnte lauten: Liebe Deutsche, Österreicher, Schweizer und andere Deutschsprachige, die zeitgenössische Literatur aus Serbien macht es euch möglich, euch umzudrehen und Sodom und Gomorrha zu sehen, ohne daran zu sterben. Euch selbst zu sehen und besser zu verstehen, ohne daran zu sterben. Wie uns bereits seit Hamlet bekannt ist, dass jedes Land ein bisschen Dänemark ist, so zeigt uns die zeitgenössische Literatur aus Serbien, dass jedes Land ein bisschen auch Serbien ist. Serbien sehen und verstehen, wie die Dinge liegen, und am Leben bleiben. Aber in erster Linie muss es natürlich heißen: Liebe Bürger Serbiens und aller Staaten des ehemaligen Jugoslawiens, durch die zeitgenössische Literatur aus Serbien ist es euch möglich, euch umzudrehen und Sodom und Gomorrha zu sehen, ohne daran zu sterben. In jedem Serbien steckt ein bisschen Serbien drin. In jedem Dänemark steckt ein bisschen Dänemark drin. So wie in jedem Witz ein bisschen Witz drinsteckt. So wie an jeder Wahrheit etwas Wahres dran ist.

Der ästhetische und der ethische Standpunkt sind zwei Gesichter, zwei Aussagen, zwei Formen der gleichen Macht, der gleichen Kompetenz: Das ist, in der Sprache Kants, die Macht des interesselosen Urteils. Was haben Gewissen, Denken, Wissenschaft und Kunst gemeinsam? Im Gewissen, im Denken, in der Wissenschaft und in der Kunst gibt es kein Interesse und keine Kompromisse, auch keine erhabenen, nationalen, heiligen oder sonstigen. Für alles gilt: Entweder ist es unbedingt, oder es ist nicht. Entweder ist es kompromisslos und interesselos, oder es ist nicht. Es nimmt, Gott sei es gedankt, keinerlei Rücksicht auf Zugehörigkeit, Interesse, Bedürfnisse, Verwandtschaft, Heimat… Sowohl dem Gewissen, als auch dem richtigen Schlussfolgern, als auch wissenschaftlichen Tatsachen, und Kunstwerken wohnt eine unabhängige, unbestechliche Gesetzmäßigkeit inne. Entweder ist diese Gesetzmäßigkeit am Werk, oder sie ist es nicht – Nachahmungen, gute Absichten, lärmende Rhetorik und höhere Interessen gelten hier nicht – entweder es gibt ein Gewissen, oder es gibt keines, entweder es gibt Logik und Wahrheit, oder es gibt keine, entweder es gibt die Kunst, oder es gibt sie nicht.

Sreten Ugričić, Elf Thesen über Bach. In: Briefe aus Belgrad, hg. v. Annemarie Türk. Wien 2011, S. 93-130.