Ausschnitte aus “An den unbekannten Helden”. Von Sreten.

S. 13
Was ist ein Prinzip?
Geschichte ist alles, was die Geschichte erlaubt. Natur ist alles, was die Natur erlaubt. Gott ist alles, was Gott erlaubt. Mensch ist alles, was der Mensch erlaubt. Wahrheit ist alles, was die Wahrheit erlaubt. Prinzip ist alles, was das Prinzip erlaubt.
Das Prinzip wird von Menschen und von deren Handlungen erschaffen.

S. 14
Eines der Prinzipien.
Dass nichts bleibt. Möge dies eines der Prinzipien sein. Wenn es für uns schon keinen Ausweg gibt.

Noch eines der Prinzipien.
Das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten: Freiheit oder Tod. Ja oder Nein. Alles oder Nichts. Das Prinzip des ausgeschlossenen Zweiten: Terrorismus. Wenn Unschuldige sterben müssen, so mögen sie sterben. Das Prinzip des ausgeschlossenen Ersten: Gott schweigt. Princip ist Prinzip.

Sreten Ugričić: An den Unbekannten Helden. (Übersetzt von Maša Dabić). Dittrich Verlag, Berlin 2011.

D‘ Wältwuche

Spoken Beats
Theater Neumarkt, Zürich
10. März 2012

Text, Performance – Jurczok 1001
Ton, Mix – Gabriel at Sound Development
Kamera, Cut – Claudia Bach

“Irgendwo”.

Ich bin immer, irgendwo, wie so
weisch wieni mein?
Ja, ich bin immer irgendwo, wie so
kei Ahnig, wieso

Ich stah immer irgendwo
vor de drüü gliiche Frage:
Wie fangi a? Wie gahts wiiter?
Und wieviel gits defür Gage?

Ich stah immer irgendwo
nu mir sälber im Wäg
oder, chasch mer eine säge
wo besser als ich wär?

Ich bin immer irgendwo
halt au de Ziit vorus
die nächschte paar Jahr
gibi im Schlaf Interviews

Frögeds das, säg ich das
Frögeds andersch, cheris um
und wänn de Wecker endlich schället
isch es irgendwo scho Tag

Ich bin immer, irgendwo, wie so
frög mi nöd wieso
ich bin immer irgendwie, irgendwo, wie so
ja, scho

Ich bin immer irgendwo
es biz zwüsched mine Bei
es biz näbd de Schueh
mit eim Fuess bi dier dihei

ich bin immer irgendwo
mitem Chopf i de Wulche
uf dim Schoos, i dine Händ
und biire biz bi ihre

irgendwie bini irgendwo
halt au nu en Mänsch
wo sich nöd vill besser
als e Hosetäsche kännt

die besser Helfti vo mim Hirn
weiss das längschtens scho
aber de Rescht vo mier isch mängmal
halt dänn doch irgendwo

Ich bin, irgendwie
was chan ich defüür?
Ich bin immer irgendwie nie
elleige am Stüür

Ich stah immer irgendwo
wieso im Gägeliecht
vo Lüüt, womer ständig säged
was us mier no wird

Ich stah immer irgendwo
wieso anere Chrüüzig
det wohned d Schuelkollege
all i ihrne Hüüsli

Ich stah immer irgendwo
mitem Rugge zu de Wand
lueg uf de Dancefloor
und am Deejay uf d Hand

Zum Glück gits die Lieder
wo eim s Gfühl gänd
me heg irgendwo e Bestimmig
und all gsehnd das irgendwänn

Ich bin immer, irgendwo
bini scho froh, dassi no läbe
ich bin immer irgendwo
wie so, ja, was sölli säge?

Ich stah immer irgendwo
zwüsched em Yoghurt und em Brot
jetzt händs umgstellt, umbout
mi händ no en grössere Coop

S Brot isch jetzt neu
ganz z hinderscht hinne
nüm wie früener die fairi
Baumwulllinie

Yoghurt häts sicher
fascht zäh Meter
richtigi, light
und eine uf Demeter

Am Schluss chaufi sones
Doppelpack Underwösch
wo irgendwo uf de Wält
für en Tag de Durscht löscht

Ich bin immer, irgendwo, wie so
losisch zue?
Ich bin immer, irgendwo, wie so
moll, das chunt scho guet

Ich bin immer irgendwo
zwüsched füfzähni und
ich bin eifach überqualifiziert
ich mach nuno, was mi wükli innezieht

Ich stah immer irgendwo
uf de Gäschtelischte
Cash bruuchi eigentlich nu
fü die nächschti Mieti

Ich sitz immer irgendwo
bi de Tuube ufem Dach
wasi säg und was i mach
isch wie so Tag und Nacht

Drum isch Mittag irgendwo
fascht die beschti Ziit
lüüt mer a, dänn seisch mer
was dr ufem Mage liit

Ich bin immer, ja, doch
das hätt e chli öppis,
ich bin immer irgendwo
wieso? Störts di?

Ich sött immer irgendwo
de Finger usenäh
ich sött immer irgendwo
wie so öppis zuegäh

so vill Lüüt glaubed a mich
und hoffed dassis schaff
kei Ahnig wo du läbsch
ich bin en Star i däre Stadt

ich bin immer irgendwo
zwüsched Wädi und New York
und wänns irgendwo en Mc bruucht
rüefeds mi sofort

drum bini immer irgendwie wie so:
hey, weisch was?
Ihr chönd mer all am, irgendwo
ich weiss genau wasi mach

Ausschnitte aus “An den unbekannten Helden”. Von Sreten.

S. 21
Die Treppe ist lang und steil wie ein Wasserfall, wie ein Strom von Kaskaden, und irgendwo auf halbem Weg tauchen fluoreszierende, gesprayte Schriftzüge auf, ich lese sie mit jedem eurer Schritte. Der erste lautet: Serbien ist schaurig. Dann eine leere Treppenstufe. Dann auf der nächsten: Wie gut, dass es nicht existiert. Dann wieder eine leere Stufe. Danach:Serbien ist wunderbar. Dann eine Pause. Danach: Wie schade, dass es nicht existiert. Dann drei leere Treppenstufen. Auf der vorletzten steht: Gehorsam diene ich … Und oben angekommen: … dem Serbien in meinem Herzen. Die Treppen sind wie Bäche, Bäche der Begierde, die die silbriggrünen Glasfassaden der Ordnung und des Sinns herabstürzen. Einen Augenblick später seid ihr auf der Strasse, ihr schreitet gedankenversunken vorwärts, durch die Menschen, durch die Luft, durch die Gedanken, bis zur ersten Kreuzung. Dann nach links, hinunter zur Brücke, zum Wasser, zu mir.
Das Wasser ist da, um aus der Tiefe zu leuchten.

S. 37
Der Querschnitt eines Apfels legt einen fünfzackigen Stern frei. Der Längsschnitt des Apfels verdeckt den fünfzackigen Stern. Der Querschnitt eines Weihnachtsbaums legt eine Schneeflocke frei. Der Längsschnitt des Weihnachtsbaums verdeckt die Weihnachtsgeschenke. Der Querschnitt der Milchstrasse legt eine spiralförmige Himmelsrutsche frei. Der Längsschnitt der Milchstrasse verdeckt die spiralförmige Himmelsrutsche. Der Querschnitt eines Bleistifts legt eine totale Sonnenfinsternis frei. Der Längsschnitt des Bleistifts verdeckt die totale Sonnenfinsternis und legt einen dünnen Pfeil frei. Der Querschnitt einer weissen Taube im Flug legt Christus am Kreuz frei. Der Längsschnitt der weissen Taube ist tödlich, aber drei Tage später wird die weisse Taube wiederauferstehen. Der Querschnitt einer Frau im Koma legt das Leben frei. Der Längsschnitt der Frau im Koma verdeckt die Freudentränen. Der Querschnitt des Schwarzen Meeres in der Tiefe, zu der kein Licht vordringt, legt Schwärme fluoreszierender Quallen frei. Ein Längsschnitt des Schwarzen Meeres ist nicht möglich.

S. 60
Ich fahre bis zur letzten Haltestelle, die die erste ist. Hier muss ich aus der U-Bahn aussteigen, wieder hinaus auf die Strasse. Die Rolltreppe funktioniert nicht, ich steige zu Fuss hinauf, als würde ich auftauchen, hinein in das Morgenlicht der Welt und der Stadt. Die Treppe ist lang und steil wie ein Wasserfall, wie ein Strom von Kaskaden, und irgendwo auf halbem Weg tauchen fluoreszierende, gesprayte Schriftzüge auf, ich lese sie mit jedem meiner Schritte. Der erste lautet: Hallo. Dann eine leere Treppenstufe. Dann auf der nächsten: Hast du Lust zu ficken? Dann wieder eine leere Stufe. Danach: Ich dich oder du mich? Dann eine Pause. Danach: Ich dich? Dann drei leere Treppenstufen. Auf der vorletzten steht: Gehorsam diene ich … Und oben angekommen: … deinen Wünschen. Die Treppen sind wie Bäche, Bäche der Begierde, die die silbriggrünen Glasfassaden der Ordnung und des Sinns herabstürzen. Einen Augenblick später bin ich auf der Strasse, ich schreite gedankenversunken vorwärts, durch die Menschen, durch die Luft, durch die Gedanken, bis zur ersten Kreuzung. Ich gehe für dich.

S. 65
Die Wohnung liegt in Trümmern. Alle Sachen sind durcheinandergeworfen und zerbrochen, alle Wände abgewetzt und zerfurcht, alle Böden und Decken aufgerissen, alle Leitungen und Installationen entblösst und ausgerupft, alle Schlösser und Türgriffe herausgerissen, alle Geräte kaputtgeschlagen, die Eingeweide freigelegt, die lebensnotwendigen Organe verschwunden, die Vorhänge an den Ecken zerknittert, plattgetreten und schmutzig, alle Betten auseinandergenommen und an die Wand geworfen, alle Spielzeuge liegen jedoch ordentlich aufgeräumt in einer Kartonschachtel, um die eine Seidenschleife mit dem Schriftzug des GDÖP, des Geheimdienstes und der Öffentlichen Polizei gewickelt ist. Im Nebenzimmer schluchzt jemand. Und kratzt mit den Nägeln an die Tapete. Hör auf damit, denke ich. Die Schluchzer hören auf. Hör auf damit, denke ich wieder. Das Kratzen hört auf. Hör auf damit, denke ich. Im Nebenzimmer ist niemand mehr. Dann gehe ich hinaus, stürze die Treppe hinunter, wie ein Bach durch das Grün, auf der Strasse sind scheinbar die gleichen Geräusche, die gleichen Gerüche, die gleichen Leben, die gleichen Wahrheiten, die gleichen Giftstoffe, die gleichen Ströme in den Fernleitungen, die gleichen Düsenflugzeuge in der Höhe, die gleichen Minerale im Asphalt und im Beton und in unseren Knochen, du bist der Gleiche in mir, in Gedankenschnelle mitten ins Knochenmark eingebaut, scheinbar der gleiche Tag, das gleiche pulsierende Protoplasma.

Sreten Ugričić: An den Unbekannten Helden. (Übersetzt von Maša Dabić).
Dittrich Verlag, Berlin 2011.

Von Mariella Mehr

Meisterhaft Deutsch
schreiben sich die Flinten
vor die Körper.

Es will einer austreten
nur mit Wolkentuch bekleidet.
Sein Herz gehört schon
nicht mehr dieser Welt.

Nur ein Schuss, der
Blumengott im Fieber
schlief.

In deiner Tasse tropft
der letzte Regenwind,
trink sie aus

und fülle deinen
Mund mit Himmel.

Mariella Mehr. In: San Colombano e attesa. Effigie edizioni, Milano 2010.