Sonnenschein. Von Daša Drndić

Bei einem Treffen von italienischen, österreichischen und eidgenössischen Mathematiklehrern 1969 in Zürich lernte Haya Tedeschi Elvira Weiner aus Zürich kennen. Bei der Konferenz sprach man nicht nur über Mathematik, man sprach auch über die Vergangenheit. Man spricht immer über die Vergangenheit, um sich besser kennen zu lernen, so ist das eben. Gespräche über die Vergangenheit haben Ähnlichkeit mit einer Beichte, sie verschaffen eine Erleichterung, nach der die Seele wie befreit auf Engelsflügeln in die Jetztzeit zurückkehrt.
“Die Straße ist schön, aber ich mag Bahnhöfe nicht, Bahnhöfe können schrecklich sein”, sagte Haya Tedeschi zu Elvira Weiner, als die beiden am freien Nachmittag die Bahnhofstraße entlangschlenderten und die Schaufenster betrachteten. “Allerdings”, sagte Elvira Weiner, und dann noch: “Gehen wir doch ins Café.”
“Ich war sechzehn Jahre alt”, erzählte Elvira Weiner, “zu Hause wurde viel über Güterzüge geredet, über die Kohle, die mit der Eisenbahn aus Deutschland über die Schweiz durch den Gotthardtunnel an Italien geliefert wurde, darüber wurde viel geredet, wenn auch meistens hinter vorgehaltener Hand, es war ein offenes Geheimnis, alle wussten davon. Eines Tages sagte meine Mutter, die verlangen von der Schweizer Regierung, einen Zug mit Menschen drin durch den Gotthard nach Deutschland zu lassen, das sagte meine Mutter”, erzählte Elvira Weiner, “und dann sagte sie noch, die Leute vom Komitee haben mich gefragt, ob ich helfen will, es heißt, es kommen etliche Menschen, und wir wissen nicht, was das für Menschen sind oder wohin sie fahren, sagte meine Mutter”, erzählte Elvira Weiner, “aber das stimmte nicht”, erzählte Elvira Weiner, “meine Mutter hat es gewusst, sie wusste, was das für Menschen waren. Komm schon, mach mit, es ist eine humanitäre Aktion, die Züge halten in Zürich und wir verteilen Decken, Kaffee und Suppe an die Reisenden, haben die vom Komitee mir gesagt, erzählte meine Mutter”, erzählte Elvira Weiner, “wir hatten das für ein Hirngespinst gehalten, wir haben die Geschichte nicht glauben wollen, wir glaubten es nicht, 1944 war ich sechzehn Jahre alt, aber es wurde immer mehr darüber geredet, und eines Tages sagte meine Mutter zu meinem Vater: Ich habe mich nun doch gemeldet und werde helfen, sagte sie”, erzählte Elvira Weiner, “mein Vater war dagegen, sie solle sich nicht einmischen, sagte er zu meiner Mutter, verstrick dich nicht in die Geschichte, sagte er, aber meine Mutter sagte, ich muss es tun, ich muss es einfach tun”, erzählte Elvira Weiner, “später hörten wir von einem Abkommen zwischen der deutschen und der schweizerischen Regierung, auch das Schweizer Rote Kreuz hat mitgemischt, durch das Abkommen konnten diese Züge durch den Sankt Gotthard fahren und mussten nicht über den Brenner, normalerweise fuhren die Züge über den Brenner, aber der Brenner war wegen Schnee geschlossen, deswegen konnten sie die Leute nicht über den Pass fahren, Italiener und Zigeuner, ja, und Zigeuner, die durch Deutschland und noch ein Stück weiter fahren sollten, und dann haben die Deutschen entschieden, die Kohlewaggons zu nehmen, die sollten nicht leer zurückfahren, und da haben sie Italiener und Zigeuner hineingestopft, und dann hat das Schweizer Rote Kreuz gesagt, in Ordnung, die Waggons dürfen in Zürich nachts halten, in Ordnung, wir sind einverstanden, nachts, sagte das Schweizer Rote Kreuz, dann bringen unsere Leute den Reisenden Decken und heißen Kaffee und heiße Suppe, damit sie bequemer reisen können, sagte das Schweizer Rote Kreuz”, erzählte Elvira Weiner. “Mama ist in die Stadt gegangen und hat bei den Leuten Kaffee gesammelt, es gab nicht viel Kaffee, Kaffee war rationiert, und Mama sagte, dann gebt Erbsen, Erbsen sind nicht rationiert, Erbsen können wir essen, so viel wir wollen, unbegrenzt, trotzdem bekam sie nicht so viel”, erzählte Elvira Weiner, “und dann haben wir aus diesen Erbsen Suppe gekocht mit ein paar Karotten und Kartoffeln, ich meine schon, doch ja, mit Kartoffeln. So sind wir bei den Leuten herumgegangen, und dann sagte meine Mutter, komm doch mal mit zur Versammlung, und ich bin mitgegangen, sie fand in einer Schule statt, ich weiß nicht mehr, welche Schule es war, und auf dieser Versammlung wurde gesagt, was wir machen sollten, wenn die Züge ankamen. Auf der Versammlung war eine Frau vom Roten Kreuz, sie sagte, die Züge kämen nachts, wir sollten Taschenlampen mitbringen, bringen Sie unbedingt Taschenlampen mit, sagte sie, organisieren Sie sich in Vierergruppen, sagte sie, und verteilen Sie sich auf die markierten Stellen am Bahnsteig, sagte die Frau vom Roten Kreuz”, erzählte Elvira Weiner, “und alles, was Sie sammeln können, die Decken und den ganzen Kaffee und die Suppe bringen Sie einen Tag früher an den Sammelplatz, sagte die Frau vom Roten Kreuz”, erzählte Elvira Weiner, “und zum Bahnhof bringen Sie bitte Ihre Gasmasken mit, sagte die Frau vom Roten Kreuz, ich wusste nicht, warum wir Gasmasken haben mussten”, erzählte Elvira Weiner, “aber wir alle hatten Gasmasken, Gasmasken wurden häuserweise verteilt, wir alle hatten Gasmasken für alle Fälle, aber wir haben sie nie benutzt, die Schweiz war neutral. Und meine Mutter hat alles gemacht, was die Frau vom Roten Kreuz gesagt hatte, sie brachte die Decken und den Kaffee und die Suppe vorher zur Sammelstelle, und dann kam der Tag. Wir hatten kein Auto, und es gab ständig Verdunklung, und wir fuhren mit der Trambahn und trugen unsere Gasmasken und bekamen gesagt, wir sollten jeweils eine Kette bilden, dann würden sie uns die Kessel mit dem Kaffee und der Suppe hinstellen, und ihr gebt den Kaffee und die Suppe in Näpfe und gebt sie weiter, sagten die vom Schweizer Roten Kreuz, und einer steht direkt am Waggon, sagten sie”, erzählte Elvira Weiner. “Und wir kamen da an, das war so um neun Uhr abends, wir waren zu viert, eben eine Vierergruppe, meine Tante, meine Mutter, unsere Haushaltshilfe und ich, und meine Mutter stand ganz vorn, es gab insgesamt glaube ich zehn solcher Teams, ja, zehn, und wir waren in den entsprechenden Abständen verteilt, und dann warteten wir. Alles war vorbereitet, und wir warteten, und dann brachten sie diese großen Kessel mit heißer Suppe, ich weiß nicht, wo sie sie gekocht haben, oder nein, ich weiß es, in den Räumen der Jüdischen Gemeinde, das hat meine Tante gesagt, und dann kamen die Kessel, ich war für die Suppe zuständig, ich sollte die Suppe in Blechnäpfe gießen, in Portionen aufteilen. Und so haben wir gewartet”, erzählte Elvira Weiner, “und dann haben wir sie gesehen, die Waggons, wie sie in den Bahnhof einfuhren, ganz langsam, und schließlich kamen sie zum Stehen. Jemand hat die Türen von außen geöffnet, denn sie waren verriegelt, die Waggons, jemand hat die Riegel aufgeschoben und die Türen geöffnet, und wir standen da und warteten, und dann kam ein Mann und stand eine Ewigkeit da, und dann gab er uns mit dem Kopf ein Zeichen, dass wir anfangen könnten, und dann habe ich angefangen, die Suppe einzufüllen. Es war unangenehm, ich hatte die Taschenlampe auf den Boden gelegt, die Suppe war heiß, kochend heiß, dann reichte ich den Napf unserer Haushaltshilfe, sie hieß Ida, Ida Ban, und die gab die Suppe an meine Tante weiter, die Tante gab sie meiner Mutter und die gab sie dem Mann, der sich umdrehte und die Portion jemandem im Zug reichte, die Portion verschwand, also gab es in diesem Zug Menschen. Das dauerte so eine halbe Stunde, und die Atmosphäre war sehr angespannt, man hatte uns gesagt, wir dürften nicht reden, dürften auf keinen Fall pfeifen oder sonst etwas, die Situation war sehr, sehr angespannt, ich weiß noch, dass ich dachte, was wohl passieren würde, wenn die Leute herauskämen, wenn sie aus den Waggons springen würden, was dann passieren würde, und ich versuchte mir vorzustellen, wie es im Waggon aussah, ob die Leute Betten hatten, ob es Stühle gab, ich fragte mich, ob sie in diesen Waggons Öfen hatten, denn es war schrecklich kalt, und ich fragte mich, wenn sie jetzt herauskämen, was wir machen würden, ob wir sie wieder in die Waggons schieben müssten, oder ob wir sie hier in Zürich unterbringen müssten, bei uns zu Hause, und ob ich dann mit jemandem das Bett teilen müsste, mit einem Mädchen in meinem Alter, denn meine Mutter hat damals Juden zu uns eingeladen, Flüchtlinge, die in verschiedenen Lagern lebten, sie hat sie fürs Wochenende eingeladen, denn da hatten die Flüchtlinge Ausgang, übers Wochenende, und dann schlief immer eine bei mir im Zimmer, also dachte ich, vielleicht würde wieder jemand in mein Zimmer einziehen, nur eben für länger. Aber es geschah nichts. Als die Suppe alle war”, erzählte Elvira Weiner, “als der Kaffee und die Suppe alle waren und wir keine Decken mehr hatten, sind wir nach Hause gefahren, mit der Tram, wie auf dem Hinweg, wir mussten uns beeilen, um die letzte Tram nicht zu verpassen. Der Zug aber blieb im Bahnhof stehen”, erzählte Elvira Weiner, “die Türen der Waggons wurden wieder verriegelt. Dann erschien in der Zeitung ein Artikel, die Leute, die in Bahnhofsnähe wohnten, hatten sich über den Lärm beschwert”, erzählte Elvira Weiner, “denn die in den Waggons riefen, lasst uns raus, lasst uns gehen, sie haben geschrien und von innen gegen die Wände geklopft, so laut wie möglich, und die Leute am Bahnhof konnten nicht schlafen, und dagegen haben sie sich gewehrt, und dann wurde vorgeschlagen, dass die Transporte beim Landesmuseum Halt machten, weit hinter dem Hauptbahnhof, bei der Museumsstraße, denn dort sei keine Wohnbebauung, und die Transporte würden niemanden stören, das wurde vorgeschlagen”, erzählte Elvira Weiner, “ich nehme an, wir wollten nicht wissen, was da vorgeht, wir wussten, die Leute fahren nach Deutschland, wir wussten, dass Juden dabei waren, wir wussten von den Konzentrationslagern, und wir haben ihnen geholfen, und zum Dank brüllen sie die ganze Nacht, so haben wir gedacht”, erzählte Elvira Weiner, “wir geben ihnen Decken und Kaffee und Suppe, warum machen sie jetzt so einen Lärm, das ist nicht anständig, das haben wir gedacht, sie machen Lärm, und wir können nicht schlafen, so haben die Anwohner geschrieben, wissen Sie, es war Krieg”, erzählte Elvira Weiner, “und wir hatten alle unsere eigenen Sorgen, und das quält mich heute”, erzählte Elvira Weiner, “wenn wir die Leute nicht im Stich gelassen hätten, wenn die Regierung das Abkommen gebrochen hätte, wenn wir gesagt hätten, wir lassen nicht zu, dass sie nach Deutschland gefahren werden, vielleicht wäre nach diesem Transport keiner mehr gekommen, aber es sind noch etliche gekommen, es waren viele Transporte, acht, vielleicht auch zwölf, und als ich noch einmal mit Mutter hingegangen bin, standen die Waggons weit weg, beim Schweizerischen Landesmuseum, am letzten Bahnsteig, alles wiederholte sich, Decken, Kaffee, Suppe, das Klopfen und die Schreie, und dann sagte meine Mutter, du kannst nicht mehr mit zum Bahnhof, du musst in die Schule, du darfst nicht so spät ins Bett, du musst ausgeschlafen sein. Ich weiß nicht, wer alles dort geholfen hat, wir durften nicht darüber sprechen, es war verboten, darüber zu reden”, erzählte Elvira Weiner, “außerdem war es dunkel, wir hatten nur unsere Taschenlampen, es war sehr dunkel, aber ich erinnere mich, als sie den Waggon öffneten, sah ich in der Tür einen Mann mit einem bleichen Gesicht, einem schrecklich bleichen Gesicht in dieser Dunkelheit.
Bei der Versammlung hatte ich ein paar Bekannte gesehen, Gleichaltrige, mit einigen war ich schon Skifahren gewesen, die Erwachsenen kannte ich nicht, meine Tante kannte sie, ich nehme an, es waren Juden, ich kannte einen Mann, er war Rechtsanwalt, er sagte ‘Hallo Kleine’ zu mir, beim Bahnhof hat er so getan, als kenne er mich nicht. Das Schweizer Rote Kreuz hat Kontakt zu Juden aufgenommen, das Schweizer Rote Kreuz hat, glaube ich, heimlich Kontakt zu den Juden aufgenommen, ich glaube, die anderen Leute wussten von diesen Transporten nichts, sie hatten keine Ahnung, und das Schweizer Rote Kreuz dachte, es hätte eine Geste gemacht, eine große humane Geste, so hat sich das Schweizer Rote Kreuz übrigens auch verhalten, es führte sich wie ein Retter auf, als hätte das Schweizer Rote Kreuz die Leute mit den Decken und dem Kaffee und der Suppe gerettet, ich weiß nicht, ob das Schweizer Rote Kreuz je daran gedacht hat, die Züge nicht weiter fahren zu lassen, die Leute zu befreien, ich weiß es nicht”, erzählte Elvira Weiner.
“Wir wussten nichts, wir wussten nur, dass mit diesen Zügen Juden und Zigeuner nach Deutschland fuhren und von da weiter, wohin, wussten wir nicht, und dass sie durch die Schweiz mussten, weil der Brenner zu war. Das hatte mir Mama gesagt, und bei der Versammlung in der Schule hatte jemand gefragt, warum müssen die ausgerechnet durch die Schweiz fahren? Niemand war begeistert, dass die Züge durch die Schweiz fuhren, keiner fand es toll, dass die Schweiz da mitmachte, denn die Schweiz behauptete, dass die Schweiz ein neutrales Land sei, aber es hat sich herausgestellt, dass sie nicht neutral war, vor allem die Schweizer Banken nicht, auch wenn das erst noch bewiesen werden muss”, erzählte Elvira Weiner. “Auf dieser Versammlung sagte jemand, vielleicht sind es politische Gefangene, aber ich wusste, meine Familie wusste, wir wussten, nein, wir nahmen an, dass diese Leute in Konzentrationslager kamen, wir wussten von den Konzentrationslagern, wir wussten von verschiedenen Lagern, Dachau, Bergen-Belsen, Theresienstadt, Theresienstadt war ein gutes Lager, dort wurde nicht gemordet, wir hätten etwas tun können, damals habe ich nicht so gedacht, alle dachten, die Decken und der Kaffee und die Suppe, das sei genug. Ich war sechzehn, ich bin zur Schule gegangen, wir haben da gestanden, als die Züge langsam in den Bahnhof einfuhren, wir haben gewartet, bis die Türen aufgemacht wurden, und ich hatte gedacht, was passiert jetzt, was, wenn die Leute ausbrechen, wenn sie den Mann in Uniform wegstoßen und alle aus dem Waggon springen, was machen wir dann, befördert sie jemand zurück in den Waggon, ich wollte, dass die Leute befreit würden, aber ich wollte nicht, dass sie hier bei uns flohen, das war wie im Zoo, da bedauerst du die armen Raubkatzen auch, aber du willst nicht, dass sie gerade dann freikommen, wenn du sie betrachtest, die soll jemand in der Wildnis freilassen, denkst du”, erzählte Elvira Weiner. “Später, damals nicht, aber später habe ich mich gefragt, warum ich gerettet wurde und andere nicht, aber heute weiß ich, dass niemand gerettet wurde. Als der Krieg vorbei war, wollte meine Mutter nicht darüber reden, sie wollte es vergessen, ich fragte sie einmal, was denkst du ist aus den Leuten in dem Zug geworden, und sie sagte, o Elvira, das waren komische Zeiten. Das ist Ende 1943, Anfang 1944 passiert.
Es war sehr kalt. Später lernte ich Elena Dreher kennen, nicht zufällig, es gibt keine Zufälle, ich habe Nachforschungen angestellt, später, als meine Mutter gestorben war, da habe ich Nachforschungen angestellt. Elena Dreher war Partisanin”, erzählte Elvira Weiner. “Elena Dreher erzählte, dass sie versucht haben, die Güterzüge aus dem Hinterhalt vor der Schweizer Grenze zu stoppen, sie erzählte mir, dass die Nazis die Leute in den Dörfern und Städten zusammengerufen und ihnen Zigaretten angeboten hätten, und dann hätten sie sie verhaftet und in die Züge gesteckt und nach Deutschland in Arbeitslager geschickt, manche Züge hätten sie abfangen können, ein paar Leute hätten sie retten können, sagte mir Elena Dreher”, erzählte Elvira Weiner. “In den Archiven gibt es Dokumente, ich habe nachgeforscht, in den Archiven kann man nachlesen, dass der Gotthard 1943 und 1944 stark frequentiert war, alle zehn Minuten fuhr ein deutscher Zug durch die Schweiz nach Italien, und dann habe ich mich in die Archive des Roten Kreuzes gesetzt, aber in den Archiven des Roten Kreuzes gibt es keine einzige Zeile über die Züge, die über Zürich gefahren sind, keine Zeile über die organisierte Hilfe, über die Decken und den Kaffee und die Suppe, nichts über das bisschen Hilfe für die italienischen Gefangenen, die im Grunde nicht der Rede wert war, vielleicht gibt es deswegen nichts darüber, als hätte es nicht stattgefunden”, erzählte Elvira Weiner. “Aber ich habe woanders ein Dokument gefunden”, erzählte Elvira Weiner, “einen Zettel, auf dem stand, dass eine Vertreterin des Schweizer Roten Kreuzes im Januar 1944 Kontakt zum deutschen Kommando in Norditalien aufgenommen hat, zu SS-Größen wie Globoenik und Rainer, um die Hilfsleistungen an die italienischen Staatsbürger zu koordinieren, dann habe ich in den Archiven der Schweizer Bundesbahn gesucht”, erzählte Elvira Weiner, “aber nichts gefunden.
Bei der Schweizer Bundesbahn wurde mir gesagt, dass das Archiv 1960 umgezogen sei, und da wären sämtliche Angaben über Fahrpläne und Zugbewegungen während des Krieges vernichtet worden, vernichtet”, erzählte Elvira Weiner. “Am schlimmsten war, dass diese Waggons verplombt waren, sie konnten nur von außen geöffnet werden”, erzählte Elvira Weiner, “das ist vielleicht das Schlimmste.”
“Ich habe auch Bahnhofsalpträume, Bahnhofsalpträume, Bahnhofsalpträume, Alpträume”, wiederholt Haya, während sie in dem roten Korb kramt, dann findet sie ein kleines Foto, das sich 1944, man weiß nicht wie, man weiß nicht wie, wie nur?, zwischen die Bilder geschlichen hat, die ihr der SS-Untersturmführer Kurt Franz geschenkt hat. “Da ist es”, sagt sie.

Daša Drndić: Sonnenschein. Fraktura Verlag, April 2007.

 

„Gefangenitits“ oder die historische Erfahrung meines Grossvaters. Von Vladimir Arsenijević

Der Zweite Weltkrieg erwischte den Stiefvater meiner Mutter, einen Offizier der jugoslawischen königlichen Armee, im Dienst im herzegowinischen Nevesinje. In einem Pavillon für Offiziere in unmittelbarer Nähe zur Kaserne wohnte er mit seiner Ehefrau, meiner Grossmutter, einer jungen Witwe, deren erster Mann tragisch das Leben verloren hatte, und mit ihrer Tochter, meiner Mutter, die er annahm als wäre sie seine eigene. Ein Jahr vor dem Krieg wurde auch meine Tante geboren, die Halbschwester meiner Mutter.

In Nevesinje lebten sie so gut es eben ging – die Stadt hatte in dieser Zeit noch nicht einmal Strom – doch mit der Hoffnung, in einigen Jahren an einen besseren Ort umzuziehen. Nach Sarajevo, zum Beispiel. Und vielleicht einmal, mit etwas Glück und guten Beziehungen, sogar nach Belgrad!

Der Krieg, der im April 1941 ausbrach, hinderte sie jedoch daran. Für immer. Alle Pläne vernichtete er in einem Zug und zerstreute ihre zerbrechlichen Leben, die bis dahin zusammengehalten wurden von dem durch nichts begründeten Glauben an dieses „bessere morgen“, welches in Wirklichkeit nirgendwo in Aussicht war.

Nach raschem Abschied von seiner Frau und seinen Kindern ging mein Grossvater in den Krieg. Seine Frau wird er nie mehr sehen – sie wird sterben, erschöpft, in jenen ersten schweren Nachkriegsjahren im serbischen Požarevac – und die Töchter wird er erst viele Jahre später treffen. Bis zum Zusammenbruch Jugoslawiens (das Königreich Jugoslawien kapitulierte am 17. April 1941 vor den Achsenmächten, Anm. des Übersetzers) kämpfte er in der Umgebung von Nevesinje gegen die Italiener, dann wurde er gefangen genommen und mit einer Gruppe anderer Offiziere in das so genannte Campo 64 in den Norden Italiens verfrachtet.

So endete der Krieg für ihn gleich da, gleich zu Beginn. In den folgenden zweieinhalb Jahren sah er zu, dass er irgendwie zurecht kam mit der Einsamkeit, der Hilflosigkeit, der Rechtlosigkeit, dem Hunger sowie mit dem akuten Mangel an Informationen darüber, was in der Aussenwelt geschah. Durch die dichten Rollen des Stacheldrahtes und die Gitter an den Barackenfenstern beobachtete er die Jahreszeiten, wie sie sich abwechselten an den milden Hügeln und an den massiven, dunklen Ablagerungen der Dolomiten im Hintergrund und diese fast unwirkliche Schönheit der Natur machte seine armselige Lage nur noch schwerer.

Wie viele andere ging auch mein Grossvater in den Krieg bereit zu sterben oder schwer verletzt zu werden, nicht aber um in Gefangenschaft zu geraten. Der Mangel an Freiheit nagte an ihm Tag für Tag. Wie die Zeit fortschritt, wurde er sich selbst immer unerträglicher. Das einzige, was er wirklich wünschte, war, sich hinzulegen, die Augen zu schliessen und irgendwohin zu schweben, wohin auch immer. Wenn möglich für immer. Wandte sich ihm jemand zu, erwachte in ihm eine irrationale Wut. Er hasste alles und jeden. Er war sicher, den Verstand zu verlieren.

Er war nicht der einzige. Zwar durften die gefangenen Offiziere ihre Uniformen behalten und tragen, sie erhielten täglich zwei (wenn auch magere) Mahlzeiten und es stand ihnen sogar eine Krankenstation zur Verfügung – all dies konnte sie aber nicht vor schwerer Verzweiflung retten. Die Atmosphäre in den Gefangenenbaracken wurde immer schlimmer. Die einstigen Mitkämpfer und Freunde teilten sich in Lager auf und beschuldigten einander für Dieses und Jenes und aus allen möglichen Gründen. Und alle Jugoslawen zusammen befanden sich oft auch in verschiedenen sinnlosen Streitigkeiten mit Angehörigen anderer Nationalitäten: mit Iren, Schotten, Engländern, Neuseeländern, Australiern usw., mit welchen sie gezwungen waren, das vollgestopfte Lager zu teilen.

Diesen Zustand der kolossalen Apathie und Trägheit gemischt mit unkontrollierten Ausbrüchen irrationalen Hasses gegen alles, was sich bewegt, so auch gegen sich selbst, nannten sie einfach „Absterben“. Erst später erfuhren sie, dass britische Offiziere schon eine etwas geistreichere Bezeichnung für das gleiche Syndrom erdacht hatten: „Gefangenitis“, nach dem deutschen Wort „gefangen“. Die Gefangenenkrankheit also. Der äusserste Verlust von Lebensenergie, Schlaflosigkeit, Paranoia, verschiedenste neurotische Symptome, Hypochondrie, Hysterie und ein chronischer Geruch des Todes in der Nase, das ist es, was mein Grossvater wie auch die Mehrheit der anderen Gefangenen in Kriegslagern im Norden Italiens von 1941 bis 1943 erlitt.

Und als es im Spätsommer 1943 zum Zusammenbruch des faschistischen Italiens kam, verliessen die Wächter wortlos die Lager und liessen die Tore weit offen. Die Mehrheit der Gefangenen ging damals zu Fuss über die Alpen und erreichte irgendwie die Grenze zur Schweiz, wo sie schliesslich auf freiem Territorium empfangen wurden. Aber nicht als freie Menschen.

Von neuem wurden sie interniert in eine Art Empfangszentren. Obwohl dort die Bedingungen bedeutend humaner waren als in den Lagern, aus welchen sie geflohen waren, mussten sie warten, bis ihr Status rechtlich gelöst war und es verging noch ziemlich viel Zeit, bevor man ihnen provisorische Papiere und dann die so genannten Nansen-Pässe bewilligte, ein Reisedokument für Flüchtlinge, welches von dem damaligen Völkerbund herausgegeben wurde. Der Krieg war schon vorbei, als ihnen als politische Asylanten die Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung in der wohlhabenden, angenehmen, schönen und von kriegerischer Zerstörung verschonten Schweiz genehmigt wurden.

In der Zeit, aus der ich mich an ihn erinnere, in der Mitte der 70er Jahre, war mein Grossvater bereits Rentner in ehrenwertem Alter, einfach angezogen, aber mit einer Art Reinheit und Ordentlichkeit, die in der Zwischenzeit völlig verschwunden sind. Es gibt heute nichts mehr so Gestärktes, wie seine Hemden es waren, nichts mehr so richtig und glatt Gebügeltes, wie es die Linien seiner Stoffhosen waren oder das Revers seines Mantels, nichts Glänzenderes als seine immer polierten Schuhe und nichts Steiferes als seinen Hut mit schmaler Krempe. Er ging sehr gerade, mit der Spitze seines Stockes auf die Zürcher Bürgersteige und Kopfsteinpflaster klopfend. Obwohl er bescheiden lebte, wirkte dies damals auf mich so, als sei für ihn dieser ganze Glanz, der mich blendete, äusserst natürlich.

Heute aber sehe ich ein, dass dies gar nicht zutreffen konnte und dass sich mein Grossvater als absoluter Fremder fühlen musste in einer Umgebung, der er auf der einen Seite lebenslang dankbar war und die ihm gegenüber wohlwollend war, in der er aber trotzdem in einer unaufhörlichen, stillen Erniedrigung lebte. Da die Schweiz die Militärschulen, die er abgeschlossen hatte, nicht anerkannte, blieb ihm nichts anderes als die Anstellung als Arbeiter in einer Kugellagerfabrik. Eine Wahl hatte man im Übrigen beinahe nicht, er steckte fest, nach Hause konnte man nicht und er machte einfach das, was er musste

Aber als die Jahre vorüber gingen, kehrte jene Gefangenenmelancholie immer öfter zurück, um ihn heimzusuchen. Er schleppte sich still und lustlos durch das Leben, er kam nicht voran, auf das Ende seines Arbeitslebens wartete er in der Fabrik, Deutsch sprach er mit Schwierigkeiten, er heiratete nicht noch einmal, er ging nie nach Jugoslawien zurück, sogar nicht einmal als es wieder möglich war, er wurde auch nie Schweizer, er blieb für immer ein Besitzer des Nansen-Passes, ein Staatenloser, ein lebenslanger Flüchtling und ein lebenslanger Lagerhäftling angesteckt mit dem unheilbaren Virus der Gefangenitis.

Die Winterferien 1975 verbrachte ich bei ihm in Zürich. Ich war damals zehn Jahre alt. Das war das erste Mal, dass ich alleine ins Ausland reiste. Und es gefiel mir sehr mit ihm in diesen kalten Januartagen. Zwar wunderte ich mich über seine Gewohnheit, den herben Schweizer Käse Greyerzer auf mit Aprikosenkonfitüre bestrichenem Schwarzbrot zu essen wie auch Blutorangen, die er, wie ich denke, kaufte, weil sie die billigsten waren. Ich wunderte mich über seine unverständlichen Geschichten aus der Gefangenschaft wie auch darüber, dass er unverhohlen die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien und den Genossen Tito hasste, aber ich muss gestehen, dass er sich trotz allem, was mich an ihm verwirrte, mit mir so beschäftigte wie man von einem Grossvater, der nicht nur das Aufwachsen des Enkels, sondern auch der eigenen Tochter verpasst hatte, überhaupt nur erwarten konnte.

Er führte mich zum Mittagessen in sein Lieblingsrestaurant, dann zum Zürichsee, um Schwäne zu füttern, er führte mich in den Zoo, ins Schwimmbad und auf lange Spaziergänge durch die Stadt, ja sogar in die Kneipe, wo er sich jeweils am Samstagabend mit seinen Freunden traf, den ehemaligen Offizieren, mit denen er einmal vor langer Zeit aus dem Lager Campo 64 geflüchtet war, um einen-zwei zu trinken und einige Runden Karten zu spielen. Als wir nach Hause gingen, war es schon spät und sehr kalt. Ich hielt seine Hand. Es war das erste und einzige Mal in meinem Leben, dass ich das Gefühl hatte, wirklich einen Grossvater zu haben.

Zu dieser Zeit liebte ich es, unbekannte und merkwürdige Wörter zu sammeln. Und als ich am letzten Tag meines Aufenthalts in Zürich meinen Grossvater bat, auf die letzte Seite meines Heftes ein unbekanntes Wort zu schreiben, dachte er nach, dann dachte er noch einmal nach, dann lächelte er über sich selbst und schrieb mit zitternder Handschrift: Gefangenitis.

„Gefangenitis“, las ich mit Bewunderung. „Was heisst das?“

„Das ist eine ekelhafte Krankheit, die ich mir in der Gefangenschaft zugezogen habe“, sagte mein Grossvater und streichelte mir über den Kopf. „Und niemals habe ich mich von ihr vollständig erholt“.

Ich flog zurück nach Hause, dieses ungewöhnliche Wort im Munde wendend. Mein Grossvater zog kurz danach, ich denke noch im gleichen Jahr, aus seiner Wohnung in der Berninastrasse in Oerlikon in ein Quartier, in welchem ausschliesslich Rentner mit tiefem Einkommen, wie er einer war, wohnten. Ich sah ihn nur noch einmal, als Schwester, Mutter, Vater und ich ihn im Sommer 1978 besuchten. Ich war damals dreizehn Jahre alt. Grossvater erzählte wieder von der Zeit, die er im italienischen Lager verbrachte und ich hörte ihm damals mit verstärkter Aufmerksamkeit zu. Aber danach dachte ich lange nicht an ihn. Ich war wie jeder Pubertierende hoffnungslos und ausschliesslich auf mich selbst konzentriert. Und mein Grossvater unterschrieb ruhig den Pakt mit dem Alter. Ich habe den Eindruck, dass er es mit Vergnügen angenommen hat. Zehn Jahre später empfing ihn in Oerlikon der stille Tod.

Viel mitzunehmen hatte er nicht. Lediglich seine Einsamkeit, seine beunruhigende historische Erfahrung sowie seine chronische Krankheit, Gefangenitis.

Erst kürzlich bin ich nach vielen Jahren wieder in die Schweiz gereist. Ich hatte Lesungen in Basel und Thun und nutzte den letzten Tag meines kurzen Aufenthaltes, um einige Stunden allein in Zürich zu verbringen, in der Stadt, die ein wichtiges Toponym meiner Kindheit und meines Erwachsenwerdens darstellt.

Und Zürich erwartete mich tatsächlich elegant und wunderschön, so wie ich mich an es erinnerte, aber gänzlich fremd. Ich spazierte in der Gegend um den Hauptbahnhof, beobachtete das ruhige Flusswasser der Limmat, versuchte erfolglos mich an die gemeinsamen Wege mit dem Grossvater zu erinnern, ging die steilen Treppen der Altstadt hinauf und durch die engen Strassen, die nach Parfum duften, umgeben von Reichtum und Luxus, und in einem Augenblick fühlte ich mich unendlich isoliert von all dem, von diesem schweizerischen, durch Jahrhunderte hindurch gefestigten Wohlstand, der in einem solch scharfen Kontrast mit meiner Lebensumgebung und mit meiner historischen Erfahrung stand, genau gleich wie er in Kontrast mit der Lebensumgebung und der historischen Erfahrung meines Grossvaters stand, eines lebenslangen Staatenlosen, eines Menschen ohne Heimat, ohne Familie, ohne Ideologie, ohne Beruf, ohne Sinn, ohne Freiheit.

Und ich erinnerte mich an seine schwere Gefangenenmelancholie wie auch an all die Kriege, durch die wir von Generation zu Generation gingen sowie an verschiedene andere Tragödien und Verrücktheiten unseres Zeitalters, welche wir, die Kinder des 20. Jahrhunderts, auf den Schultern zu tragen gezwungen sind. Auf der Spitze des Hügels stehend, betrachtete ich die reiche Stadt, wie sie sich unter mir ausbreitete und fühlte stärker als je zuvor, dass wir alle nur Gefangene dessen sind, was wir „historische Erfahrung“ nennen, Blätter in unruhigem Wind, unfähig auf irgend etwas Einfluss zu nehmen, sich selbst oder anderen zu helfen, die eigene schlechte Umgebung zu ändern, rechtlos, unfrei und – genau wie mein armer, verstorbener Grossvater, der es nie schaffte, vollkommen Herr seines eigenen Schicksals zu werden – lebenslang infiziert mit dem Virus einer unheilbaren Krankheit, der Gefangenitis.

Aus dem Serbischen übersetzt von Jan Dutoit. Eine gekürzte und leicht abgeänderte Version erschien am 24.11.2011 in der WOZ (Nr. 47, S. 21) unter dem Titel „Die seltsame Krankheit meines Grossvaters“.

Vladimir Arsenijevic (1965) ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren Serbiens. Bevor er 1994 mit seinem Antikriegsroman „U potpalublju“ (auf Deutsch erschien der Roman 1996 unter dem Titel „Cloaca Maxima. Eine Seifenoper“), der als Kultbuch einer Generation gilt, debütierte, spielte er in den achtziger Jahren in einer der ersten Belgrader Punkbands, absolvierte eine Kochausbildung und verbrachte mehrere Jahre in London. Neben seiner Tätigkeit als Schriftsteller bemüht er sich seit dem Ende der Kriege im ehemaligen Jugoslawien als Verleger und Organisator von Literaturfestivals um eine stärkere Vernetzung der Literaturszenen in der Region. Arsenijevic lebt und arbeitet in Belgrad. Ende September war er zu Gast im Literaturhaus Basel und am Literaturfestival Literaare in Thun (siehe WOZ Nr. 37/11)

 

Velimir Ilišević, neue Arbeiten

Das Balkanpendel – Velimir Ilisevics neue Malerei

13. Januar 2013 

Oelfarbe auf Leinwand, 180 x 180 cm

„Flussentlang“, Oelfarbe auf Leinwand, 180 x 180 cm

Oelfarbe auf Leinwand, 180 x 180 cm

„Eschenstock“, Oelfarbe auf Leinwand, 180 x 180 cm

 

Oelfarbe auf Leinwand, 180 x 180 cm

„Eschenstock“, Oelfarbe auf Leinwand, 180 x 180 cm

Erinnerungsfetzen
Mitzuteilen, was man sieht, schafft Orientierung und Verständigung. Diese Informationen verraten jedoch oft mehr über den, der sich äussert, als über das, was dieser sieht. Noch schwieriger wird es, wenn wir, losgelöst von der Person, nur noch die Gegenstände vor uns ausgebreitet finden, die sich irgendjemand bei einem Gang durch die Welt eingeprägt hat. Wir wissen nicht, warum gerade dies oder jenes mitgeteilt wird. Dass die Begegnung mit einem isolierten Gegenstand unvermutet zum Rätsel werden kann – diese Erfahrung wird vor jedem Bild Velimir Ilisevics neu zur Gewissheit. Denn die Bilder lassen uns auch in Bezug auf die Hintergründe, auf denen das Fragmentarische erscheint, fast durchwegs im Ungewissen. Es ist etwas da, das ist alles, worüber Sicherheit besteht: Ein Kinderschlitten, ein Gummiboot, zwei Stiefel, drei schwarze Kohlebügeleisen, ein Anzahl Fische, eine Axt, Herzhälften … Kommt hinzu, dass alle diese Objekte ihre Autonomie eingebüsst haben. Sie treten nicht als Körper im Raum in Erscheinung, wie zum Beispiel ein Schlitten, den man von der Seite sieht, denn prinzipiell gesteht dieser Maler seinen Gegenständen keine Räumlichkeit zu. Genau genommen malt er sie durchwegs als ausgeschnittene Flächen. Stets sind sie so wiedergegeben, wie man sie aus grosser Distanz von oben sehen würde, als ausgefranste Flecken, deren flackernde Beschaffenheit an die nervösen Fingerabdrücke auf Alberto Giacomettis späten Plastiken erinnert. Verloren gehen mit dem Entzug der Körperlichkeit auch die physikalischen Eigenschaften. Das Glätteisen wirbelt auf der gestisch bewegten Bildstruktur wie ein Blatt im Wind, und die Stiefel treiben auf den Kopf gestellt auf gekräuselten Farbwellen Wasservögeln gleich in starker Strömung.
Velimir Ilisevic ist nicht der erste Maler, der der Welt Gegenstände entnimmt und sie als körperlose Erinnerungsfetzen auf gestisch-abstrakten Malgründen stranden lässt. Einer der Künstler, an den diese Malerei erinnert, ist Philip Guston, ein anderer Georg Baselitz. Doch tritt Ilisevic diesen Vorgängern nicht als Adept entgegen, sondern als einer, der aus seiner persönlichen Geschichte heraus zu analogen Schlüssen gelangt ist und diese kraftvoll eigenständig neu zu formulieren weiss.

Unabhängigkeit
Die Benennung der Bildgegenstände auf Ilisevics Gemälden und Aquarellen verringert die Distanz zum Wesenskern seiner Kunst in keiner Weise; ebenso wenig das Anführen von Künstlernamen, die bei der ersten Sichtung seinen Werken als mögliche Vorbilder dienten. Und wie steht es mit der Verortung in der jungen zeitgenössischen Malerei? Auch hier gibt es kaum Positionen, die Ilisevics Malerei wirklich nahe kommen. Vor allem ihr prekäres Balancieren auf Messers Schneide zwischen Abstraktion und Figuration verleiht ihr – in dieser Ausprägung – Einmaligkeit. Diese Malerei ist immer beides gleichzeitig: abstrakt-expressive Strukturfeldmalerei und assoziative Objektvergegenwärtigung – nicht im abbildendend-illusionistischen Sinne, sondern als ein gerade noch entzifferbares Zeichen. Dabei stehen die Piktogramme, die dieser Künstler malt, der Höhlenmalerei von Lascaux mit Bestimmtheit näher als irgendeinem Zeichensystem unserer Gegenwart.
Ilisevic ist als Künstler ein wirklich Unabhängiger.

Herkommen
Einen wesentlichen Teil seiner Selbstständigkeit verdankt Ilisevic seiner Herkunft. Geboren 1965 in Sisak (heute Kroatien), kam er vor dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens und den nachfolgenden Balkankriegen in die Schweiz. 1992 besuchte er in Zürich den Vorkurs in der Schule für Gestaltung. Da er erst 2010 Schweizer Bürger werden konnte, waren Reisen vor diesem Datum nur illegal möglich. Dazu entschloss er sich, um in Amsterdam und Otterlo die Werke Vincent van Goghs studieren zu können. Seit knapp fünf Jahren lebt er mit seiner Familie abseits der Kunstszene in Stein am Rhein. Unabhängig zu sein, ist ihm lebensnotwendig. Erfolg bedeutet Kampf um Anerkennung. Galerien, Ausstellungen und Museen müssen regelmässig besucht, Beziehungen aufrechterhalten werden. All diesen Aufwand zu leisten, ist dem Künstler als Ablenkung von seiner Arbeit zutiefst verhasst. Er ist deshalb, nicht als Mensch, sondern als Künstler ein ausgesprochener Einzelgänger.

Magische Augenblicke
Kreativität heisst für Ilisevic, Bildmotive aufzuspüren, die ihm frühe, prägende Lebenseindrücke in konzentrierter Form vergegenwärtigen, um sie in einem zweiten Schritt in seiner Malerei neu zu realisieren. Ilisevic ist wie Robert Walser ein zielloser Spaziergänger, der so lange umherstreift, bis er plötzlich vor dem steht, was andere überschauen, er jedoch als Offenbarung empfindet. Nur das ziellose Unterwegssein dem «Flussentlang» führt zur Entdeckung des magischen Augenblicks, in dem im Aussenbild das Erinnerungsbild aufblitzt. Dieser entscheidende Moment ist extrem flüchtig. Fotografisch liesse er sich kaum einfangen. Ilisevic ist denn auch kein Fotojäger, der auf der Lauer liegt, um das entscheidende Bild schiessen zu können. Er hält seine Eindrücke höchstens in wenigen Bleistiftstrichen fest, die ihm später im Atelier als erste Orientierungspunkte für ein Gemälde dienen können. Denn das Malen selbst dient ihm als entscheidendes Instrument, um das meist mehr Erahnte als wirklich Geschaute zum realen Bild werden zu lassen. Doch wie all diese extrem instabilen Erscheinungen in ein gemaltes Bild überführen? Die Blüten, die in der Strömung treiben, die Forellen, die in der Tiefe vorbeiflitzen, die Wolken, die sich im bewegten Wasser spiegeln, die Blätter an einem Strauch im Wind?

Wie van Gogh
Velimir Ilisevic antwortet auf die Geschwindigkeit, mit der sich ihm das aufscheinende Wunder offenbart und im nächsten Augenblick wieder entzieht, mit Gegengeschwindigkeit. Er malt schnell, ohne je zu zögern, getrieben von einer Vision wie sein grosses Vorbild Vincent van Gogh. In hastig hingesetzten pastos-breiten Pinselstrichen setzt er Bewegungsimpuls neben Bewegungsimpuls. Die Malfläche ist immer offen wie eine Ebene, über die Windböen ziehen. Die Pinselstriche fügen sich immer nur widerwillig zu Flächengebilden, die als eindeutige Gegenstandszeichen gedeutet werden können. Sie bilden mit den Zwischenpartien vielmehr einen unregelmässigen, heftig bewegten netzartigen Strukturverband. Manchmal bleiben auf seinen Bildern sogar ganze Bahnen der Leinwand unbemalt. Mit diesen Strategien wird manifestartig demonstriert, dass sich uns gegenüber keine Illusion von Wirklichkeit wie ein Fenster auftut. Vielmehr setzt das Bild die vitale Realität einer grundsätzlichen malerischen Strategie in Szene, die mit der Setzung expressiver Farbgesten operiert, von der sich wie Einfärbungen Gegenstandsflecken abheben.

Im freien Fall
Da die Gegenstände als reine Flächenmuster und ohne jede zentralperspektivische Orientierung auf den Grund gesetzt sind, bleibt es vollkommen offen, ob sich eine Szene frontal vor uns aufbaut oder ob sie aus der Vogelperspektive wiedergegeben ist. So bleibt auch unentscheidbar, ob etwas fest auf dem Boden steht, auf der Horizontalen schwebt oder wie eine Sternschnuppe im rasanten Fall an uns vorbei ins Bodenlose stürzt. Ilisevic malt Bilder, die verunsichern. Dazu gehört auch die malerische Realisierung. Da sich die Pinselstriche nie zu geschlossenen Oberflächen verbinden, sondern – wie auf einem massiv gestörten Fernsehbild der 1960er-Jahre – im Zustand flimmernder Auflösung verharren, ist auch die Frage der Distanz vollkommen offen. Unmöglich zu sagen, etwas sei ganz nah oder sehr fern.

Spolien
Ilisevics Bilder vergegenwärtigen malerische Tatsachen. Wie auf Cézannes Gemälden ist die Leinwand der Ort, auf dem sich Farben und Formakzente in jeder Hinsicht neuartig zu offenen, pulsierenden Flächenkompositionen verbinden. Irritierend ist, dass aus der Identifizierbarkeit einzelner Bildelemente kein zusammenhängendes Sinngefüge abzuleiten ist. Das, was sich auf den Gemälden und Aquarellen benennen lässt, spielt die Rolle von antiken Spolien in mittelalterlichen Stadtmauern. Wichtig ist die Mauer und nicht die in sie eingebaute Säulentrommel, die nur mehr als banaler Baustein dient. Was zählt bei Ilisevic, ist die strukturierte, von Energie aufgewühlte Malerei. Aber daraus zu folgern, der Gegenstand sei bloss Schall und Rauch, wäre ebenso falsch, wie wenn man den auf dem Kopf stehenden Adler auf einem Gemälde von Georg Baselitz als ungegenständliches Tapetenmuster abtäte. Denn Ilisevic tut alles, damit das Fragment die Sprache nicht verliert.

Exorzismus
Baselitz treibt den umgedreht dargestellten Motiven durch die exorzistische Energie des Malaktes ihre ursprüngliche Bedeutung aus. Er reduziert sie auf ihre blosse Hülle, über deren ursprünglichen Sinn neu gedacht werden soll. Analoge Prozesse durchlaufen Ilisevics Gegenstände, und seiner Arbeit liegen oft individuell erlebte Kriegserfahrungen von allgemeiner Relevanz zugrunde. Seine Familie erfuhr den Schrecken des Terrors während der Balkankriege in den 1940er- und 1990er-Jahren am eigenen Leib. Die Grossväter und Onkel des Künstlers waren während des Zweiten Weltkriegs Partisanen. Grossmütter, Tanten und auch die Eltern wurden in Konzentrationslager eingesperrt. Viele Familienmitglieder haben den Terror nicht überlebt. Diese Traumatisierung belastete die Familie enorm. Während der Kriege in den 1990er-Jahren war Ilisevic in der Schweiz. Von der Angst, dem Schmerz, dem Hunger und der Angst, denen seine Angehörigen damals erneut ausgesetzt waren, war er, wiederum indirekt, sehr stark betroffen. Vor diesem Hintergrund erhalten die Bilder, die dieses Buch vereint, ihre existentielle Tiefe.

Schlachtfeld
Das Bild Schlitten, 2010, zeigt einen schwarzgrünen Kinderschlitten, darüber zwei ebenfalls schwarzgrüne Baumstümpfe, die auch abgeschossene Beine sein könnten. Dazwischen, auf dem wogenden Weiss des aufgepeitschten Grundes, lodern rote Flecken wie Spuren, die ein stark Verwundeter auf frischem Schnee zurückgelassen hat. Ilisevic dachte jedoch nicht an Blut, als er das Bild malte, sondern an Blumen oder Frauenbrüste. Wie klumpig-flüssige Überreste auf einem Schlachtfeld sind diese Formen ins kalte Weiss eingesickert. Viele Bilder lassen sich entsprechend verstehen. Beispielsweise Grösse 68 von 2012, das zwei kopfüberstehende Stiefel zur Darstellung bringt, über denen eine grüne dreireihige Kette hängt. Oder Baumschlag, ebenfalls 2012: Ob auf einem Schneefeld liegend oder in einem Schneesturm stehend oder stürzend sind zu orten ein blaues Beil, vier Äste oder Bäume und eine rote Spur. Schneeschmelze und Herz aus Liebe, beide 2012, sind ebenso rätselhaft: Da werden auf dem ersten Bild die drei schwarzen Kohlenbügeleisen seiner Grossmütter auf Strohbetten und grünen Zweigen präsentiert, die wie lecke Rettungsboote im brühig schmutzigen Weiss des «Schneesturms» versinken. Ebenso enigmatisch ist Herz aus Liebe, wo grüne Zweige über zwei zerbrochenen Herzhälften auf blau kaltem Weiss ausgebreitet sind. Diese aufgepeitschte Malerei evoziert einen in der Vergangenheit liegenden Schrecken und macht ihn auch für Menschen erfahrbar, die nie persönlich damit in Berührung gekommen sind.

«Flussentlang»
In einer Reihe von Bildern, ist Ilisevic direkt von Eindrücken in seiner neuen Heimat inspiriert, wo er häufig am Fluss spazieren geht oder sich im Gummiboot bis nach Schaffhausen treiben lässt und vom Wasser aus die Uferböschung beobachten kann. «Flussentlang», diese poetische Wortschöpfung evoziert das Fliessen des Wassers, die Bewegung der Sträucher im Wind, zitternde Wolkenspiegelbilder, Fische im Schilf, tanzende Mücken und auch die Töne der Natur. Poetische Selbstvergessenheit, die Zeitlosigkeit eine Glücksmoments – dies ist der andere Pol in Ilisevics neuer Malerei. In den Bildern Flussentlang – Verlauf, Flussentlang – Brücke und Flussentlang – Spiegelung verliert das Weiss-Blau des Grundes seine Kälte. Es finden farbliche Verschiebungen in Richtung sanfter Morgenröte statt. Flüchtige Zartheit ist die Grundstimmung dieser Bildwelten.

«Blut & Honig»
Harald Szeemann zeigte 2003 eine Ausstellung über die junge Gegenwartskunst auf dem Balkan. Die widerstrebenden Kräfte, die in dieser Region seit Jahrhunderten aufeinanderprallen, hat er unter dem ungemein treffenden Titel «Blut & Honig» zusammengefasst. «Der Titel», so hat er in seiner Einleitung zum Katalog geschrieben, «evoziert die Pole von Zorn und Zärtlichkeit, Katastrophe und Idylle, von zutiefst Menschlichem und Universalem.» «Blut & Honig», «Axt & Herz» – das Balkanpendel fällt auch auf Velimir Ilisevics Bildern unweigerlich von einem Extrem ins andere, womit er ins Zentrum unserer heutigen Existenz trifft.

Matthias Frehner