September 2012
Ausschnitt aus “Hotel Nirgendwo”. Von Ivana Simić Bodrožić
Am Anfang waren die Leute aus Zagreb einfach die besseren Menschen für uns. Sie waren schöner angezogen, sie promenierten auf breiter angelegten Straßen und großen Plätzen, sie fuhren mit der Straßenbahn und machten dabei auch noch einen völlig gelassenen Eindruck, als würden sie nichts Besonderes tun. Sie besaßen Toaster und Spülmaschinen, und in ihren Zimmerecken waren jede Menge Spinnweben. So sahen wir sie. Bald fuhren auch wir mit der Straßenbahn, kostenlos, mit einem gelben Kärtchen. Wir prägten uns die Strecken einiger städtischer Linien ein. Ich konnte den ganzen Tag lang herumfahren und dabei Salzstangen essen. Wir mussten ständig in irgendwelchen Amtszimmern vorstellig werden, zum Roten Kreuz und zur Caritas gehen, um unsere Lebensmittel abzuholen. Ich fand das alles sehr schön. Einmal bekamen wir von der Caritas eine Tasche voll mit Süßigkeiten und schleppten sie nach Črnomerc zur Straßenbahn, die rappelvoll war. Eine fein hergerichtete Dame, die in unserer Nähe stand, sagte laut zu ihrer Freundin, die ganzen Flüchtlinge seien an dem Gedränge in der Tram schuld. »Sie fahren nur hin und her, den ganzen Tag lang geht das so, immer nur hin und her.« Ich sah zu ihr hin und lächelte sie an, denn ich wusste ja, dass wir Vertriebene waren und keine Flüchtlinge, so wie die Menschen aus Bosnien.
Nach zwei, drei Monaten Aufenthalt in Zagreb wurden ein paar Dinge schließlich für uns alle alltäglich. Es kam der Herbst, und die regnerischen Tage häuften sich. Langsam, aber sicher hörte das Ganze auf, für uns unterhaltsam zu sein. Die dreihundert Mark, die Mama mitgenommen hatte, waren inzwischen offenbar ausgegeben. Immer weniger Menschen kamen aus Vukovar heraus, die uns Nachrichten von unseren Verwandten überbrachten. Dann hörten wir eines Tages, die Alten seien umgebracht worden. So nannten wir Papas Eltern. Abgeschlachtet. Das war das Wort. Ich hörte es sehr deutlich, während ich mich hinter dem Elektroherd versteckte, der zwischen Flur und Küche stand. Ich denke, die Erwachsenen wussten, dass ich dort war, taten aber so, als hätten sie mich nicht gesehen, und ich tat so, als hätte ich sie nicht gehört. Dann wurden alle wieder sehr nett zueinander, und ich vergaß den Vorfall. Mama verschwand immer öfter im Bad und kam mit geschwollenen Augen heraus. Papa hatte schon eine ganze Weile kein Lebenszeichen von sich gegeben. In dieser Zeit beteten meine kleinere Cousine und ich ständig zu Gott. Wir knieten vor der Couch nieder und beteten, für alles, was uns einfiel, und zwar so lautstark, dass uns niemand, der sich in unserer Nähe befand, überhören konnte. Wir beteten für den Frieden, für die kroatische Garde, für die Stadt Petrinja, für Cäsar und Kleopatra. Dann machten wir einen Unsinn nach dem anderen und lachten uns krumm, da passten wir aber auf, dass uns niemand dabei beobachten konnte. Die Erwachsenen lobten uns für unsere Gebete, und ich erzählte allen, dass ich später Nonne werden wollte. Wir gingen sogar so weit, eine heilige Messe durchzuspielen.
Eines Tages platzte während einer unserer Séancen der Postbote herein. Er hatte einen Brief von Papa in der Hand. Er schrieb, dass es ihm gutgehe und dass er nicht verwundet sei, dass wir ihm sehr fehlten und wir uns alle bald wiedersehen würden. Die Erwachsenen befanden, dies sei ein gutes Zeichen, und wenn irgendjemand die Männer aus dieser Hölle befreien könne, so seien es unschuldig betende Kinder wie wir. Wir waren stolz auf uns. Ein paar Tage später verguckte ich mich in Luka. Er war meine erste Liebe, obwohl er in eine höhere Schulklasse ging. Ich gab damals die Sache mit der Nonne auf, aber noch lange danach betete ich ergeben zu Gott.
Ivana Simić Bodrožić: Hotel Nirgendwo. Wien 2012.
DAS LEBEN IST AUSLAND im Theater Neumarkt
28. October 2012, um 20 Uhr, Theater am Neumarkt, Chorgasse 5.
Die zwischen Kairo und Zürich lebende Kuratorin Rayelle Niemann empfängt die junge kroatische Autorin Ivana Simić Bodrožić. Diese liest aus ihrem Debutroman „Hotel Nirgendwo“, der Geschichte einer Jugend inmitten der Lügen des Jugoslawienkrieges, zwischen Vertreibung und Nirvana-Kassetten.
Die Chorgasse fünf ist ein kleiner Raum mit phantastischer Atmosphäre,
bitte benützen Sie deshalb unbedingt den Vorverkauf:
THEATERKASSE
T: +41 (0)44 267 64 64,
tickets@theaterneumarkt.ch
INFO & LINKS
www.theaterneumarkt.ch
Ausschnitt aus „Hotel Nirgendwo“. Von Ivana Simić Bodrožić
Ich erinnere mich an nichts, weiß nicht, wie es begonnen hat. Nur ein paar Gedankensplitter sind da. Geöffnete Fenster in der Wohnung, ein praller Sommernachmittag, die durchgeknallten Frösche vom Fluss Vuka. Ich schiebe mich an zwei Sesseln vorbei und singe vor mich hin. Wer sagt es, wer wagt es, uns so zu belügen, Serbien klein zu nennen, uns so zu betrügen. Mein Vater faltet die Zeitung zusammen, dreht sich zu mir um, und ich kann seine Nervosität förmlich spüren. »Was singst du denn da?«, fragt er. – »Nichts, das habe ich von Bora und Danijela gehört.« – »Ich will das nie wieder von dir hören. Ist das klar?« – »Ja, ist gut, Alter.« – »Was heißt hier Alter, elende Scheiße, ich bin dein Vater!«
Ivana Simić Bodrožić: Hotel Nirgendwo. Wien 2012.
Ház – Haus. Von Melinda Nadj Abonji
Von Simon Froehling
Vor Marikana
In kwaZulu-Natal rasen wir stundenlang neben Eukalyptusplantagen her:
Abertausend gleissend-weisse Stämme entziehen dem Land das Wasser
Genetically modified sagt meine Schwester und entlang der Strasse
die Schienen für das Holz für das Papier für einen Text wie diesen
Der Geruch von Inhalationen von Dampf dringt ins Auto
Fieberfrost einer erinnerten Grippe und auf dem Pannenstreifen:
Schwarze Kinder kommen in ihren Uniformen aus der Schule
At least two bodies haben sie und ihr Mann hier liegen sehen
Hinter der letzten Plantage dann die erste von vielen Minen
Diamanten vielleicht oder Kupfer für unsere Armreifen in Solidarität
mit Menschen mit HIV mit AIDS und vom Rücksitz ihre Stimme:
Darling turn the aircon off
Nach Marikana
Ein Journalist beschwört Dornbüsche, verdorrtes Gras und beinahe biblisch
taucht die sinkende Sonne den Hill of Horrors in warmes Licht im Flugzeug
in der ersten Zeitung seit Tagen lässt er sich von Alliterationen verführen
von Schmelze, Schlachtfeld und Schwarze schiessen auf Schwarze
Im Flugzeug in der ersten Zeitung nordwestlich von Johannesburg
stolpere ich über Begriffe keine Bilder stellen sich ein zu Platin zu 80 Prozent
des Weltvorkommens das unter uns liegt unter der Wolkendecke unter Tag
keine Bilder zu Lohnforderungen, D-Day und 34 Kumpel
Von Apartheid ist die Rede von automatischen Gewehren und im Flugzeug kommt
nach der ersten Nennung des African National Congress das Kürzel in eine Klammer
wie man es gelernt in der weissen Welt die nichts mehr versteht schon gar nicht
Z wie Zuma während ein Streikender im Aufmacherbild so nennen wir das
Ein Streikender leckt die Spitze seines Speeres ab
Salt Rock/Zürich, 2012
Fragments from here and there. Von Rayelle Niemann
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Die neue Verfassung
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Im Juli 2012 hat Radio DRS zwanzig Beiträge zum Thema „Ideen für die Schweiz“ gesendet. Sreten Ugričić und Melinda Nadj Abonji haben in ihrem Beitrag die Präambel der Schweizerischen Bundesverfassung modifiziert.
Präambel der Schweizerischen Bundesverfassung – Original
Im Namen Gottes des Allmächtigen!
Das Schweizervolk und die Kantone,
in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung,
im Bestreben, den Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken,
im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben,
im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen,
gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen,
geben sich folgende Verfassung:…
Modifizierte Präambel der Schweizerischen Bundesverfassung
Im Namen der Vorstellungskraft und der Wirklichkeit!
Alle, die in der Schweiz leben, alle Kantone und Spezialitäten, Kuchen und Würste, alle Berge, Bahnen, Banken, Bäder, alle Kinder, Higgs-Bosonen, Naturwunder, Frauen und Männer, alle Fabriken, Büros, Dächer und Häuser, Haustiere und Tiere, insbesondere alle Vögel,
in der Verantwortung gegenüber allem, was existiert – was um uns und in uns und in unserer Vorstellungskraft existiert –
im Bestreben, Frieden, Freiheit und Demokratie zu stärken, die Unabhängigkeit und den Nationalismus zu schwächen, um solidarisch und offen gegenüber der Welt zu handeln, im Bewusstsein, dass wir alle winzige Sterne im Universum sind,
im lebendigen Bemühen, Ähnlichkeit und Verwandtschaft untereinander wahrzunehmen, um so Verständnis und Vertrauen zu ermöglichen, um Hierarchien zu vermeiden,
im Eingeständnis, dass die gegenwärtige Gemeinschaft, so, wie sie ist, Anteilnahme und Hinwendung erfordert, im Bewusstsein der Verantwortung also gegenüber Kindern und Kirschen, Piloten und Nonnen, Büchern, schwarzen Löchern, Orbits, Sprüngen und Gedanken,
gewiss, dass nur frei ist, wer seine oder ihre Freiheit in Anspruch nimmt, die Stärkeren sich beispielsweise um das Wohl der Schwächeren kümmern, um die Kranken und Verletzten, Hungernden, Hilfe suchenden, um die Pusteblumen, Spinnweben, um Staub und Wolken, insbesondere um die Papierlosen,
geben sich folgende Verfassung:…
Nachsatz
Die vorliegende modifizierte Präambel ist in keiner offiziellen Sprache der Schweizerischen Konföderation geschrieben und verfolgt nur ein utopisches Ziel. Demzufolge besitzt sie vollumfängliche gesetzliche Gewalt.