„An den Unbekannten“. Von Melinda Nadj Abonji

Wir stellen uns natürlich immer jemanden vor, vorstellen, stellen Sie sich einen Mann mittleren Alters vor, einen reifen Mann, Raureif, Ehering, er ist also seit vielen Jahren verheiratet, ein begnadeter Frühaufsteher, der seiner Frau Kaffee kocht, bevor er sie verlässt, um zur Arbeit zu spazieren, er hat Zeit, mit jedem Schritt wird sein Kopf klarer, Weidmann heisst er, seinen Vornamen kennen wir nicht, aber heute ist der 16. Januar 1971, zweite Monatshälfte, denkt Herr Weidmann, immer noch Rückstau nach den Feiertagen, Aufholungsbedarf wegen Feiertagsrückstau, und er fühlt die Wärme in seinem Mantel, Herr Weidmann in der menschenleeren Stadt, Stille, weil die Strassenbahnen noch nicht fahren, es liegt etwas Schnee, Schaufeln sind nicht nötig, aber vorsichtige Schritte, Ausrutschgefahr am Seilergraben, nur leicht abschüssig, der Gehsteig, Bürgersteig, genau deshalb ist Vorsicht geboten, und Herr Weidmann sucht nach dem passenden Wort, für die dunklen Hauswände in der Kälte, stattdessen fällt ihm seine Erregung, sein vergeblicher Versuch wieder ein, nicht hier, hat seine Frau gesagt und auch nicht anderswo, hat sie bestimmt gedacht, und Herr Weidmann ist auf der Couch eingeschlafen, nicht hier, nicht anderswo, nicht hier, nicht anderswo, und Herr Weidmann setzt einen Fuss vor den anderen, Gefühlsgraben, Glücksgarten, er ist aufgewacht, hat hastig einen Rest Käse und Wurst in sich hineingestopft, bevor er sich zu seiner Frau hingelegt hat, die lautlos schlief, und er weiss, dass er etwas Bestimmtes gedacht hat, aber was? und Herr Weidmann bleibt ruckartig stehen, schaut nach hinten, Spuren im Schnee, seine Schreibmaschine fällt ihm ein, Schreibmaschinenvorfreude, seine Olympia erwartet ihn
ich bin auf deinem Arm
ich kann nicht untergehen
steht fett auf einer Häuserwand, sinnloser Satz, denkt Herr Weidmann, falsches Bild eines kopflosen Schmierers, und er schlägt seinen Mantelkragen hoch, setzt sich wieder in Bewegung, Richtung Neumühlequai, wo das massige Gebäude der Kantonalen Verwaltung steht.

Warum sollten wir uns nicht die Freiheit herausnehmen, uns jemanden vorzustellen? einen Mann stellen wir uns vor, der im Kaspar-Escher-Haus, in seinem aufs Wesentliche reduzierte Büro sitzt, einen Brief tippt, fingerle, nennt er diese Tätigkeit, die ihm eine ausserordentliche Ruhe verschafft, man spannt einen Bogen ein, studiert nochmals die Akten, setzt sich wieder ordentlich hin, richtet die Brille, lässt die Hände auf der Olympia ruhen (draussen wird es hell, es schneit immer noch) man ist Herr Weidmann, der augenlos zum Fenster blickt, weil er sich konzentriert, darauf, dass sein Hirn sich maximal in den Fingern sammelt, Hirn-Hände-Bündnis (Herr Weidmann gehört zu den Menschen, die Startschüsse und den Moment danach lieben – Pferde, die mit ihren Reitern schnaubend aus ihren Boxen schiessen, die geballte Kraft, wenn die Sprinter nach dem Knall von Null auf Hundert beschleunigen). Jetzt! ja sicher, ein Beamter ist eine Art Sportler, beide Tätigkeiten beruhen auf ausgeprägten Prinzipien.

16. Januar 1971

Sehr geehrter Herr Fluri

Mit Ihrer Zuschrift vom 9. Januar 1971 ersuchen Sie um die Wiedererwägung unserer Verfügung vom 29. Dezember 1970 betreffend die Einreise der beiden jugoslawischen Kinder Miladinka und Petko zum Verbleib bei den Eltern in Männedorf. Der Kindsvater befindet sich seit dem 28. Juli 1969 in der Schweiz. Anlässlich der Zulassung der Mutter hat sich Ihr Arbeitnehmer verpflichtet, auf den Nachzug der beiden Kinder zu verzichten, solange die Voraussetzungen hierfür nicht erfüllt sind.

Hätte ich keine Grundsätze, würde ich für die Monatsangaben einmal Zahlen verwenden, dann wieder würde ich sie ausschreiben, wo wäre da die Logik? wo kämen wir da hin? Ein Grundsatz ist eben mehr als ein ästhetisches Prinzip, denkt Herr Weidmann, obwohl es nicht ganz unwesentlich ist, dass eine Zahlenhäufung unschön aussieht und ausserdem die schnelle Erfassung dessen, was mitgeteilt werden soll, erschwert, Zahlenanhäufungstumult, und Herr Weidmann streckt seine Finger, prüft seine Nägel, natürlich ist ein Beamter hinter den Kulissen tätig, ein unermüdlicher, stiller Wirker. Herr Weidmann räuspert sich, zieht seine Hände von den Tasten und seine Brille von der Nase, stützt sich auf den Tisch, steht auf, streift mit einem Blick das Familienfoto, gerahmt, genau gerichtet, der Sportler hingegen sieht sich immer wieder mit der Öffentlichkeit konfrontiert, was sicher auch seine Vorteile hat, und Herr Weidmann merkt erst jetzt, dass er aufgestanden ist, vor dem Fenster steht, ehrlich gesagt hätte er auch das Zeug zum Sportler gehabt, ein Radfahrer hätte aus ihm werden können! Ich war wirklich gut, sagt er zu den sanft mit Schnee bedeckten Platanen, zur Limmat, die grau vor sich hinfliesst, aber: es war eine klare Entscheidung.

Wir stellen uns einen Menschen vor, versuchen, wenigstens ein paar Gänge seiner Gedanken nachzuvollziehen, dieser Mensch, Herr Weidmann, wird bei der Erinnerung dessen, was von seiner Anlage her auch aus ihm hätte werden können, nicht wehmütig, das Vergessen erachtet er für eine sehr nützliche, menschliche Eigenschaft, nicht so die Vergesslichkeit, die man in seinem Beruf mit allen nur erdenklichen Mitteln zu bekämpfen hat, demzufolge macht er sich auch keine Gedanken, warum er sich ausgerechnet heute daran erinnert, dass er sich bis zu seinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr vor allem um sein Training, seine Ernährung, seine Ausrüstung und physische Konstitution gekümmert hat. Eine klare Entscheidung ist das halbe Leben, denkt Herr Weidmann und sieht zwei Blässhühner, die sich auf der Limmat treiben lassen, was erstaunlich ist, weil man sie im Winter oft nur in Gruppen sieht (und er öffnet das Fenster, um sie besser zu sehen) diese beiden kleinen dunkel gefiederten Wasservögel, die auf dem eingezwängten Fluss so unverschämt schön aussehen, der weisse Schnabel, das ebenso weisse Schild auf der Stirn, die Doppelung, ein perfektes Paar, dazu die kompakten Flocken, und Herr Weidmann lehnt sich aus dem Fenster, hört die hellen Rufe der Blässhühner aus seiner Kindheit, erinnert sich an den plötzlichen Kopfsprung, wenn eines der Tiere überraschend schwungvoll abtauchte, die Wetten mit seinem Bruder, wie lange es wohl dauern würde, bis der Vogel wieder auftauchte, und Herr Weidmann, dessen Haar weiss geschmückt ist, lehnt sich noch weiter aus dem Fenster, weil das Paar aus seinem Blickfeld verschwunden ist, und fast überkommt ihn die Lust, auf die Fensterbank zu klettern, sich auf Zehenspitzen nach ihm zu strecken, aber stattdessen fällt Herrn Weidmann eine Eigenschaft des Flusses auf, seine Gefrässigkeit, die unzähligen schönen Schneekristalle, die von der Limmat vertilgt werden, auf Nimmerwiedersehen im Flusswasser verschwinden, und Herr Weidmann versteht nicht, warum ihn das in diesem Moment ärgert, es ärgert ihn so sehr, dass ihm ein etwas unbeholfener Fluch entfährt, und weil ihm vom plötzlichen Ärger und von der unerwarteten Äusserung heiss wird, zieht er seinen Wollpullover über Hals und Kopf, merkt erst jetzt, dass seine Haare nass sind, sein Gesicht feucht, Herr Weidmann rupft an den Ärmeln, flucht wieder, diesmal weniger unbeholfen, er tut es so laut und kräftig, dass wir ihn hören: InZukunftwerdeichmirverdammtnochmalmeinePulloverselberkaufen!
Und Herr Weidmann schliesst das Fenster mit einem lauten Knall (dieser Tag fängt an, ihn von Grund auf zu nerven) er dreht sich um, fährt sich mit den Handflächen übers Gesicht und die Stirn, schliesst kurz die Augen, um sich dann entschlossen wieder an den Tisch zu setzen.
Die Hände liegen besonnen auf der Olympia – wo war er stecken geblieben? – bevor sie erneut schreiben, und er spürt, wie die Buchstaben seinen Körper durchwandern, wie der kontinuierliche, mechanische Rhythmus wieder eine angenehme Ruhe in ihm entstehen lässt.

Wir bedauern, Ihnen keinen besseren Bescheid geben zu können, und grüssen Sie mit vorzüglicher Hochachtung
Fremdenpolizei des Kantons Zürich
Weidmann

Und wir stellen uns natürlich nicht vor, dass Herr Weidmann den Brief an den Metzgermeister Fluri so beendet, sondern wir wissen es, dies, nachdem er folgendes getippt hat:

Die Zulassungsfrist für Angehörige von ausländischen Arbeitskräften aus entfernteren Ländern beträgt drei Jahre. In Anbetracht der gegenwärtigen Ueberfremdung unseres Landes und des grossen Zuwanderungsdruckes von Angehörigen ausländischer Arbeitskräfte sind vorzeitige Familienzulassungen nicht vertretbar. Sofern die Kinder in Jugoslawien nicht mehr ordnungsgemäss untergebracht und betreut werden können, müsste der Mutter nahe gelegt werden, zu diesem Zwecke in ihre Heimat zurückzukehren. Im Hinblick auf die rigorosen Massnahmen gegen die Ueberfremdung können persönliche oder humanitäre Gründe leider keine Berücksichtigung mehr finden.

Herr Weidmann unterschreibt, nachdem er seinen Namen getippt hat, mit Kugelschreiber, das heisst, er tut es, indem er seinen getippten Namen überschreibt, seine Hand, die sich in raschen Schwüngen bewegt, nachdoppelt, bekräftigt.
Wenn wir aber genauer hinsehen, rollen sich die ununterscheidbar ineinander geschwungenen handschriftlichen Buchstaben zu einem stachligen Draht aus – Bis hierher und nicht weiter! Das Übertreten dieser Grenze führt Sie ins gefährliche Gebiet der Vorstellungskraft!

P.S. Auf dem Fluss waren nicht nur zwei Blässhühner zu sehen, sondern auch ein kleines, mit farbigen Lichtern ausgeleuchtetes Tanzschiff, auf dem sommerlich gekleidete Paare innige Kreise drehten. Ja, mitten im Winter.