WESPENNEST. Von Zsófia Balla

Streichst zwischen zwei Flecken, Orten umher,

Äste, Gestrüpp plagen dich,

schnaufst bäuchlings über die Saiten,

schwörst bei Zähre und Gewissen

Wer die Heimat wechselt, sollte sein Herz wechseln. Immer mehr begreife ich die Wahrheit des Dichters, wenn ich nun eine Antwort auf die Frage suche, was es bedeutet, zwischen zwei Städten, zwischen zwei Heimatländern zu pendeln.

Der Ort, von dem der Schwung meines Pendels seinen Ausgang nahm, besitzt drei Bezeichnungen: Kolozsvár, Cluj, Klausenburg. Die einst wohlhabende und heute lediglich auf ein bewegtes Schicksal zurückblickende Stadt ist reich vor allem an Geistigem,  an Geschichte und Namen. Der Landesteil, dessen Zentrum Klausenburg ist, trägt ebenfalls mehrere Benennungen: Erdély, Transsylvanien, Ardeal, Siebenbürgen.[1] Für mich war es ein gepolstertes Nest, das mit verschiedenen Kulturen, Traditionen und Glaubenskonfessionen ausgestattet war, sowie eine aus Beton gegossene monolithische, sozialistische Zelle mit einem gemeinsamen Schicksal.

Der Ort, an dem ich mich niederzulassen versuchte und wo ich gegenwärtig die meiste Zeit verbringe, heißt Budapest. Ein schöner, verschlossener Mann mittleren Alters. Ein bißchen enerviert, er sieht, daß seine Schläfen allmählich grau werden. Klug, gebildet, ein wenig verlottert und militant. Er stößt mich nicht von sich, aber umarmt mich auch nicht. Alles, so sagt er, liege an mir. Leicht ist das nicht, bin doch auch ich nicht mehr verführerisch jung. Ich bewohne die Metropole, sauge sie in mich auf, hofiere und liebe, schreibe über sie. Manchmal raffe ich mich auf und fahre nach Hause, eine in Budapest lebende Klausenburgerin, für einige Wochen, einige Monate. Und dann zurück. Wie das Pendel einer Uhr. Jemand  schlägt, zerstört sich innerlich, zeigt ihm seinen Platz und auch die Zeit.

Den Weggang von zu Hause empfinde ich als Todessprung, so im nachhinein und noch in der Luft; darauf vertrauend, daß ich das Sicherheitsnetz nicht verfehlen oder das andere Ufer erreichen werde. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn jemand derart halsstarrig wie ich ein Klausenburger Lokalpatriot ist.

Der Ort, so sagt man, macht mich zu der, die ich bin. Die Klausenburger Sprache, die einer Minderheit, ist ein anderes Ungarisch als das des Mutterlandes, es entwickelt sich anders, hat andere Schwerpunkte. Es artikuliert sich darin auch eine Antihaltung. Jahrzehntelang dachte ich, aus dem Stoff zusammengesetzt zu sein, der da Klausenburg heißt. Diese Stadt sei es, die mein Denken und Schreiben ausmache. Zwar meinten einige, Platz gebe es für mich auch anderswo, und sie behaupteten sogar, dort gehörte ich hin. Dessenungeachtet war ich der Überzeugung, die Dinge seien dort nicht auf den Punkt zu bringen. Die Grundlagen meines Denkens und Wertesystems seien in den Türmen, meinen Freunden und Lehrern zu suchen, in dem, was uns hier widerfahre, in meinen Liebesbeziehungen, den Wäldern, unseren Wohnungen und Möbeln, in meinen Tonbandaufzeichnungen und den Bildern. Und nun, da ich Klausenburg eigentlich verlassen habe, werde ich mich verlieren? Verlieren? Oder? Dies ist für mich jetzt die ausschlaggebende Frage.

Wird sich in Budapest meine Sprechweise, meine Sprache verändern? Die Art meines Denkens?


Wenn ihr dereinst in der neuen Welt

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wo einige Telefonnummern kreisen werden,

selbst-vergessen.

 

Ich glaubte, eine phantastische Sache für mich erfunden zu haben. Zwei Schauplätze. Und ich sowohl hier als auch dort. Ich dachte, nach dem Ende der Diktatur müßte ich nicht alle Zelte abbrechen und auswandern, um auch in Budapest sein zu können. Es gibt Blumen, deren Wurzeln sowohl in der Erde wie auch in der Luft wachsen. Klausenburg sei die erhaltende Erde und Budapest die belebende Luft. Die Frage der Redaktion nach diesem Doppelleben kam einem Stich ins Wespennest gleich. Darüber zu sprechen, fällt mir ungewohnt schwer.

Dieses Thema, so beobachte ich, ist stets ungenießbar aktuell, schmerzlich, quälend, eine offene Wunde, in welcher Form auch immer darüber gesprochen wird. Zweifellos stecke ich voller Schuldkomplexe. Wer letztendlich weggeht oder weggehen will, sucht für seine Entscheidung nach Argumenten und Selbstrechtfertigung. Wer bleibt, sucht nach einer Bestätigung für seine Position. Vielleicht würde er selbst ebenfalls zu einer Veränderung neigen, statt dessen reagiert er vehement und aggressiv gegenüber den Weggehenden seine Trauer angesichts eines als kümmerlich empfundenen Lebens ab. Daheim hat es den Anschein, als wären die Menschen stolz darauf, Mißerfolge zu haben und ausgeplündert zu werden. Und wenn es ihnen schon nicht möglich ist, als unbesorgte Bürger zu existieren, dann werden sie eben Propheten. Das Prophetendasein aber ist eine Einbahnstraße, aus der kein Weg zurück führt.

Der Königspaß in den Westkarpaten ist der Ort, an dem ich das Gefühl habe, zu Hause angekommen zu sein. Langgestreckte Täler, Wälder, Heuschober. Wie eine Umarmung. Es schmerzt, es schmerzt. Ärmlich die Dörfer wie immer und unbeleuchtet, neu nur die Cola-Reklame. Und die Stadt: dunkel und vertraut. Eifersüchtig nehme ich wahr, daß Leben in ihr ist, auch wenn ich nicht da bin. Ein beglückendes und bedrückendes Gefühl. Die Menschen gehen irgendwohin, nach Hause, zu Besuch, ins Theater. Aus den Gaststätten dringt Musik nach draußen. Das hier sind keine Restaurants, sondern Gaststätten! Sobald ich zu Hause ankomme, spreche ich anders. Noch verkehren die O-Busse, am Kálvária-Hügel biegt die Straßenbahn, rot-weiße Marlboro-Werbung zur Schau tragend, rumpelnd in die Hauptstraße ein. Vor unserer Haustür fehlt ein weiteres Stück Bürgersteig; nun sehe ich, wie verdreckt und heruntergekommen das Treppenhaus ist; im Souterrain auf dem Hof eingeschlagene Oberlichter, Hodors Wohnung steht auch jetzt leer … Am Treppenaufgang hängt unser Briefkasten, unser Name steht darauf, ich stecke die Finger hinein, um nach Post für mich zu sehen, vergebens. Woher auch? Nur Staub. Tante B. schläft schon, die anderen sehen fern, es flimmert bläuliches Licht. In der Nachbarschaft ist im Badeofen das Kochen des Wassers zu hören. Die Kratzer am Schloß, von 1982, sind deutlich sichtbar, der Schlüssel dreht sich darin, die Farbe an der Tür blättert ab. Im Vorzimmer die Amaryllis, die Palme, im Regal die Zeitschriften, meine Märchenbücher, Siebenundsiebzig ungarische Volksmärchen, die ich 1958 von meinem Vater bekommen habe, und die Biographien, Broschüren, die in den Regalen im Zimmer, annähernd viertausend Bücher, keinen Platz haben. Ich packe meine Sachen auf die Truhe, darin Eingewecktes auch jetzt, nicht Kompott, weiter ins Zimmer, ich inspiziere die Wohnung, es ist dunkel hier, aus der Anrichte hole ich zwei Glühbirnen hervor, auch so herrscht Schummerlicht, der Strom ist zu schwach, daran bin ich nicht mehr gewöhnt. Die Badewanne ist voll mit Wasser, das bedeutet, daß es nur nachts ausreichenden Wasserdruck gibt. Im Schreibtisch die Schere, die Schreibutensilien, Papiere, in der kleinen Schublade die Ausweise, schnell nehme ich sie in die Hand: Das bin nun ich. Ich bin angekommen.

Mit wieviel pubertärer Wut, mit welcher Überheblichkeit verfolgte ich Ende der sechziger Jahre die Auswanderung meiner Verwandten! In der Zeit der vorübergehenden politischen Öffnung sind viele gute Bücher und Zeitschriften nach Rumänien gelangt, phantastische Vorträge waren zu hören, man konnte reisen. Alles beobachteten und verschlangen wir, bereiteten uns auf eine Laufbahn als Musiker, Schriftsteller, Ethnologe, Schauspieler, Regisseur, Philosoph, Ingenieur und Priester vor. Die Kultur sahen wir als unsere einzige Chance; dies war eine existentielle Erfahrung. Dann, reicher geworden um andere Erfahrungen (die obligatorische Erstanstellung im entlegensten Winkel des Landes, strafartiger Militärdienst, geheimdienstliche Abhöraktionen und Verhöre, verschiedene Erniedrigungen, Berufsverbote), verließen anderthalb Jahrzehnte später viele von denen, die sich seit langem darauf eingestellt hatten, ihre Heimatstadt, ihr Land, das Dacia Felix, das Glückliche Dazien.


Alle Glocken würden ertönen

Die Seele mit mir laut dröhnen

Niemals forderte ich meine Freunde zum Bleiben auf; zu schrecklich waren ihre Geschichten. Das Leid allerdings, das sich mit einer derartigen Ankündigung verband, das unsichere Warten, jede Abschiedsfete, jede ausgeräumte Wohnung, jedes Begleiten zum Bahnhof, die unter Schwierigkeiten hin- und hergehenden, nach und nach spärlicher werdenden Briefe und die daheim immer schwerer zu ertragenden Belastungen waren furchtbar. Es war uns zumute, als schleppten wir einen großen Holzbalken und als würde jeder einzelne, der sich absetzte, es denen nur um so schwerer machen, die sich noch nicht dazu entschlossen hatten. Zusehends beschlich uns das Gefühl, die Bedrängnis nicht mehr aushalten zu können. Wovor die anderen die Flucht ergriffen, dem Geflecht von Lüge und Angst, das schien ihnen recht zu geben; die Lage wurde immer verworrener und erdrückender. Im Siebenbürgen, Szatmár und Bukarest der achtziger Jahre hatte man den Eindruck, als würden wir fortwährend etwas zur Grabe tragen. Und Beerdigungen fanden tatsächlich statt. Zwar begingen viele Selbstmord, erlagen übermäßigem Alkoholkonsum, doch auch der Geheimdienst blieb nicht untätig und trieb manch einen auf die eine oder andere Weise in den Tod. Die Namen der Weggegangenen durften in der Presse nicht genannt werden. Öffentlich erwähnt wurden sie nur von den Staatssicherheitsoffizieren und Parteigenossen bei den Verhören. Mit den Gedichten, in denen ich das Bleiben und den Widerstand thematisierte, machte ich mir Mut: Dennoch! Trotz allem werden wir leben. Ich weinte um die, die weggehen würden, hatte Angst, du wirst dich dereinst an nichts erinnern. Ich beschrieb mich als einen versteinerten Baum, hoffte, daß jemand leben wird mit ihm, ach, mein Volk/mich einlädt in diese Welt. Redete mir ein: Wie ich lebe, das ist meine Heimat. Wußte: Sie wird ewig bleiben, die Narbe auf meiner Haut, auf unser aller Haut, was auch geschehen würde. Solange die Diktatur dauerte, brachte ich es nicht übers Herz, die anderen zu verlassen, insbesondere nicht in der Zeit des bitteren Endspiels. Von niemandem allerdings hätte ich dies als Aufgabe akzeptiert. Nur für mich selbst entschied ich das, kann sich der Mensch doch nur selbst zu etwas entschließen: Wenn keiner mehr bleibt, wenn wir alle weggehen,/um zu leben, wenigstens bis zum Tod,/wird es niemanden geben, niemanden, der aufersteht. Das schrieb ich am 9. November 1989. Noch ahnte ich nicht, daß anderthalb Monate später 46 Demonstranten in meiner Heimatstadt niedergeschossen werden würden. Und die Stadt lebt, es wimmelt darin von jungen Leuten. Bücher von vielen begabten Nachwuchsschriftstellern sind erschienen. Es gibt eine Auferstehung, eine Stafette.


Wenn du endlich Land zustrebst,

von Wellen zermürbt, aber lebst,

Nachdem ich nun Land betrat, fragte mich ein echter, weltberühmter und gut genährter Professor der Medizin, kaum daß wir uns zehn Minuten kannten, ob ich mich nicht als Vaterlandsverräterin fühlte. Denn was würde aus dem siebenbürgischen Ungarntum werden, wenn ein jeder – wenn auch nur halb – Siebenbürgen verließe? Nein, als solche empfand ich mich nicht. Doch wenn er meinte, so schlug ich ihm vor, würde ich gern jemandem meine Klausenburger Wohnung für fünf bis sechs Jahre überlassen, der dort den Helden spielen wollte. Statt dessen müßte auch ich nicht in einer Budapester Notunterkunft auf dreiundzwanzig Quadratmetern Raum mein Leben fristen, sondern könnte mich hier im vornehmen Villenviertel von Buda niederlassen … Eine Siebenbürgerin zu sein, sollte vielleicht doch nicht einer lebenslangen Strafe gleichen und Klausenburg nicht Charons Nachen. Zweiundvierzig Jahre ein Leben im Nationalitätenparadies. Wenn der Herr Professor wolle, könnten wir gern tauschen.

Siebenbürger zu sein, ist der Auffassung des ganz seinem Beruf ergebenen Doktors zufolge eine Mission. Im Namen irgendeiner abstrakten Idee oder politischen Vorstellung muß dort, in Transsylvanien, um jeden Preis die Stellung gehalten werden. Sagen wir, selbst um den Preis meines Lebens. Hätte ich ihm erzählt, daß ich 1975 in der besten Klausenburger Klinik, als ich bei einer Operation fast gestorben wäre, mein Kind verloren habe und eine erneute Schwangerschaft nie mehr möglich gewesen ist, daß damals die Betten mit zwei Patienten belegt wurden, Kopf bei Fuß, Fuß bei Kopf – das würde er als Arzt sicher verstanden haben … Doch auch auf der anderen großen Entbindungsstation der Stadt konnte man sich sogar noch 1993 nur unter kaltem Wasser im Krankensaal waschen, den Oberkörper. Für annähernd sechzig Frauen gab es keine einzige Dusche. Wer sich stark genug fühlte, ging in den Kesselraum, um sich dort irgendwie auch von der Taille abwärts zu reinigen …

Warum muß man alles Leid, jede Geschichte herunterleiern, warum muß man sich rechtfertigen, was man nicht mehr ertragen konnte, wovon man plötzlich genug hatte? Wer in der Grenzfestung zur Welt gekommen ist, der soll gefälligst auf der Warte verrecken? Ist es etwa von keinerlei Interesse, ob er sich lieber um seinen Beruf kümmern will; ist es etwa von keinerlei Belang, ob er hungert, ob er einen Paß erhält, ein Einreisevisum, ob er an Bücher, an Zeitschriften herankommt oder nicht? Wenn er daran zugrunde geht, dann hat er nicht seinen Mann gestanden? Und warum gibt es keine Wachablösung, keine Bevölkerung, die uns eine Atempause verschaffen könnte, wenn ein solch gesamtnationales Interesse bestehen sollte…?  In den letzten fünfzig Jahren wurden hierzulande, in Siebenbürgen, im Namen des Friedenskampfes, des Klassenkampfes oder der mehrheitlichen nationalen Staatsidee vom einzelnen Entsagung und Opfer verlangt. Dieser Auffassung nach gibt es kein Privatleben, gibt es nicht den einzelnen, nur den großen kollektiven Apparat. Und jetzt sollte individuelles Leben um einer neuen, diesmal um einer nationalen Ideologie willen aufgegeben werden?

Die schwersten Jahre habe ich in meiner Heimat verbracht, aus eigenem Entschluß. Und ich denke, nun ein Anrecht darauf zu haben, ein ziviles Leben zu führen, eine Privatperson zu sein und das zu tun wie auch der Herr Professor-, was mir am meisten Spaß macht.

Die passende Antwort – nämlich daß jemand, der im Wohlstand lebe und keine Not leide, nicht das Recht habe, einem anderen vorzuschreiben, daß er Entbehrungen auf sich nehmen solle und eine Existenz in relativer Isolation, in ständiger Bedrohung angesichts der Nationalitätenfrage zu führen habe- blieb ich der Berühmtheit schuldig. Ein kluger Freund allerdings äußerte sich an diesem Abend dazu: Die meisten Menschen lebten gern dort, wo sie aufgewachsen seien. Und wenn jemand den Ort seiner Geburt verlasse, dann habe er sicher allen Grund dazu.


Wenn du alles verloren

und gerade so alles in einem …


Unverändert der Klausenburger Markt

in den lauernden, blauen Skarabäusaugen

Die Gegenstände. Ich wirbele in der Klausenburger Wohnung umher. Was soll ich jetzt mitnehmen? Einige Bilder, Schüsseln und Tassen. Die Winterstiefel. Diese zweibändige Gesamtausgabe packe ich ein, die Erstausgaben bleiben, hier ist mehr Platz, und ich brauche sie, wenn ich zu Hause bin … Wörterbücher sind sowohl hier als auch dort notwendig, eine solche Lebensweise, zwei Bibliotheken, kostet viel Geld; meine Bücher fehlen mir sehr. Das Bild meines Vaters von der Wand wäre schön. Doch auch diese Wohnung will ich nicht ihrer Seele berauben. Auf einen Ort in dieser Stadt, wo ich mich zu Hause fühle, kann ich nicht verzichten. Bett und Schreibtisch stehen am gewohnten Platz, in den Schubladen die Klausenburger Adreßaufkleber, Briefe, Auszeichnungen meiner Eltern, aus der Grundschulzeit das Poesiealbum mit den Zeichnungen, die Bilder der Verwandten, Einladungen zum Abiturientenball, Partituren. Der Flügel klingt zusehends verstimmt. Ich spiele darauf einen Psalm, meine Finger sind wie eingerostet. Ich rufe J. Sz. an. Ihrer Stimme ist anzumerken, daß sie sich freut; am nächsten Tag bricht sie in Tränen aus: »Du fehlst mir sehr.« Auch ich kann die Tränen nicht zurückhalten, als ich sie umarme. Wir betreten die mit Büchern und Wandteppichen vollgestopfte Wohnung, im Zimmer peile ich instinktiv den Lehnstuhl an. Das ist mein Platz! Alles ist unverändert geblieben, und trotzdem ist alles verloren.

Verloren das seit meiner Kindheit vom Fenster aus zu sehende Bild. Über die alten Hausdächer erheben sich jetzt ein Betonklotz, ein Bankgebäude und ein gigantisches Betonkreuz. Allmählich verliert die Kulisse ihr Gesicht, die äußere Atmosphäre meiner Geburtsstadt wandelt sich, allerdings nicht zum Guten, sondern sie versackt im Dreck, wird von Betondächern und neureichem Renommiergehabe erdrückt. Diese einst weltoffene Stadt nimmt immer mehr dörfliches Gepräge an.

Wenn ich mich auf den Weg nach Hause mache, nach Budapest, habe ich bereits einige Tage, Wochen oder Monate zu Hause in Klausenburg verbracht. Ich schlage die Tür zu, die 1982 verkratzt worden ist, sieben Jahre später stellte sich heraus, daß damals vom Sicherheitsdienst eine Abhörvorrichtung installiert worden war. Wieder habe ich mir alles im Theater angesehen, meine Freunde besucht und mich von ihnen verabschiedet (zum wievielten Male?), mich in den Geschäften umgesehen und einige Wege bei den noch immer sozialistisch anmutenden Behörden erledigt. Das Auto wendet auf dem Platz, jedes Haus, jede Straße, jeder Baum, jede Brücke könnte eine Geschichte erzählen, ich begreife nicht, weshalb ich die Stadt jetzt verlasse, wo ich doch hier wohne; seine Vergangenheit, seine Schätze verläßt der Mensch nicht einfach. Glücklich der, bei dem das Gegebene und das Gewählte eins sind.

Ich versuche, ein zweigeteiltes Leben zu führen. Ich schreibe und sage, was mit mir in Klausenburg, was mit mir durch diese Stadt geschehen, was in mir vorgegangen ist. Doch nur hier, in Budapest, zum Himmel blickend, der sich zwischen den Häuserzeilen auftut, kann ich ruhig und ohne ein Gefühl der Beklommenheit nachdenken. Durch die Erinnerung wird alles intensiv und genau, spürbar anschaulich, sie beschnuppert ihren Gegenstand, dreht sich im Kreise, sucht nach etwas. Ich mache mir einen Merkzettel, was ich beim nächstenmahl mitnehmen, mir ansehen muß …


Wenn Budapest Schultern hätte, breite,

eine behaarte Brust, beileibe,

meinen Kopf könnte ich hineinbohren:

Ach, fühlen würde ich mich wie neugeboren…

 

Dies ist eine dritte Lebensform, dort zufrieden, wo ich gerade bin, nicht ohne die andere Stadt mehr oder minder schmerzlich zu vermissen. Verlust und Versprechen. Mit meinen nach Budapest gekommenen Freunden aus dem ehemaligen und heute zu Serbien und Kroatien gehörenden Südungarn amüsiere ich mich über einige Klagegesänge der hier heimischen Landsleute. Und auch darüber, wie jemand so leben, wie jemand weder Serbisch noch Rumänisch verstehen kann …         Während der Rückfahrt lasse ich meinen Blick über die gotische Kirche zu Fenes schweifen, die Häuser in Körösfő, die Landschaft hinter dem Paniti-Paß, die Abzweigung nach Gyerőmonostor und das Köröstal; bis zum Königspaß in den Westkarpaten weine ich, ich verberge die innerlich fließenden Tränen auch vor meinen Freunden. Vor denen, die mich von Budapest auf einer solchen Reise nach Klausenburg begleiten. Meist gehören sie zu jenen, mit denen zusammen und derentwegen in Budapest zu sein mir lohnenswert erscheint. Einer Metropole, die selbst in ihrem Verfall herrlich ist, einer reichen Literatur mit großem Atem und wo meine Freunde-das ist es ja! -liebenswert sind, klug, spöttisch, müde, genial und sich abrackern. Sie sind wir. Zwei Flügel habe ich, zwei Hände, zwei Ohren, einen rechten Verstand habe ich, zwei Städte. Und zum dritten die gleichgewichtigen Teile: meinen Mund, mein Herz, und was mir der liebe Gott sonst noch zu meinem Wohlergehen mit auf den Weg gegeben hat.

Ankommen tue ich im allgemeinen in Ártánd. Auf der Hinreise fallen mir die immer ärmer scheinenden östlichen Landesteile ins Auge, nun auf der Rückfahrt erkenne ich, wie gepflegt sie sind, sogar die Straßen sind in spürbar besserem Zustand als in Rumänien … An der Grenze gibt es seit neuestem keine Schwierigkeiten, doch die Magenkrämpfe werden mich nie verlassen. Alles hier in Ungarn macht einen unglaublich zivilisierten Eindruck. Beim Anblick des Hoheitszeichens klopft mir das Herz, und ich empfinde eine tiefe Erleichterung, als, wäre ich von irgendwo entkommen. Wieder ist es mir gelungen, einem Land den Rücken zu kehren, wo der Ausgang von nichts vorhersehbar ist, lediglich gute Geländekenntnisse eine annähernde Einschätzung der Lage erlauben und Raffinesse ohne Ende ans Ziel führt, wo andere mir sagen, wer ich bin: eine Rumänin ungarischer Muttersprache, eine siebenbürgische Ungarin, eine ungarische, der Glaubensgemeinschaft abtrünnige Jüdin, für Freidenker eine Gläubige, außerdem eine Geschiedene, eine Kinderlose, eine Frau, eine Liberale, eine Intellektuelle…

Ich komme und gehe, um all dies zu sein. Und sogar noch mehr. Ich wohne im Wespennest.

Budapest, am 5. Februar 1996



[1] Hundertfünfzig Jahre lang, bis 1711, autonomes Fürstentum. Klausenburg, Geburtsstadt von König Matthias Corvinus und dem Mathematiker János Bolyai, über zweieinhalb Jahrhunderte Metropole der Fürsten, Bürger, Handwerker und Universitäten. Und obwohl dies infolge einer jahrzehntelang stupiden Bevölkerungspolitik der Vergangenheit angehört und sich die Stadt heute zu einem Industriezentrum mit mehreren hundert Randbezirken entwickelt hat, besitzt sie noch immer elf Universitäten, Hochschulen und zwei Opernhäuser.

Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke. Erschienen im Band: Zsófia Balla, Schönes, trauriges Land. Edition suhrkamp, Frankfurt/M 1998  pp 56-71.