Aquarelle. Von Velimir Ilišević

Stete Verwandlung – Zur Malerei von Velimir Ilišević
Text aus dem Katalog „Zeichen zeigen“ – Dr. Kathleen Bühler 

Rückkehr der Figuration

Die Figuration ist im neuen Jahrtausend mit grosser Wucht in die Malerei zurückgekehrt. Bereits wurde der unübersehbaren Tendenz in der Gruppenausstellung «Zurück zur Figur – Malerei der Gegenwart» (2006) Respekt gezollt, aber gleichzeitig die Frage aufgeworfen, was figürliche Malerei heute leisten kann und wie sie sich als vormaliger Gegenpol zur Abstraktion positioniert. Denn die Frage, ob man dem abstrakten oder dem figürlichen Lager angehört, wird heute in der Malerei längst nicht mehr mit der gleichen Dringlichkeit gestellt wie unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern durch eine freimütige Vorgehensweise ersetzt, die beides mit Selbstverständlichkeit kombiniert. Die Autoren orten im Katalog der erwähnten Überblicksausstellung unterschiedliche Strategien hinter dem erneuten Aufkommen des Figürlichen und seinen verschiedenen Mischformen. So entspringe realistische figürliche Malerei dem Bedürfnis, mit dem gemalten – im Unterschied zum fotografierten – Bild grössere sinnliche Präsenz zu erzielen, um so dem Dargestellten eine überzeugende Wirklichkeit zu verleihen und das Abbild wieder zu einem Gegenstand werden zu lassen. Und nicht zuletzt diene die langsamere Vorgehensweise beim Malen dazu, die eigene Lebenswirklichkeit in ihrer Vielschichtigkeit klarer zu erkennen und mit grösserer Subtilität ins Bild zu übertragen.
Im deutschsprachigen Raum hat Gerhard Richter diese Entwicklung vorgebahnt, indem er Abstraktion und Figuration auf selbstverständliche Weise parallel in seinem Werk pflegt. Mit seiner Vorgehensweise befreite er viele Maler vom Zwang, sich für einen Stil zu entscheiden, und ebnete den Weg für den Einsatz der unterschiedlichen Stilformen als Sprachbausteine, die beliebig miteinander kombiniert werden können. Auch Georg Baselitz hatte entscheidenden Einfluss auf die Vermischung von Realitätsfragmenten mit abstrakter Malerei, verkörpern doch seine auf den Kopf gestellten Sujets ein mit den Eigenmitteln der Malerei geformtes Gebilde, das nicht den Gesetzen der Wirklichkeit gehorcht und der Funktion der Abbildung folgt, sondern durch die Brüche in der Darstellungslogik die Macht der reinen Malerei beschwört und dergestalt den Sinnzerfall der Nachkriegszeit thematisiert. Wie schon bei den deutschen Expressionisten erscheint bei Baselitz’ Bildern «etwas Zusammengesetztes­ nicht als Elemente einer Komposition, die sich am Ende doch zur Einheit zusammenfügen, sondern als Reibung zwischen als Forderung und dem Unbehagen des Künstlers, der sein Anliegen als Stil nicht mehr fassen kann. Die Harmonie von Allgemeinem und Besonderem, welche die unausgesprochene Grundlage jedes Stils sein muss, wurde aufgekündigt und zerstört. In merkwürdiger und vorerst unauflösbarer Weise drang die Existenz des Künstlers selbst in die Werke ein.»

Auf ähnliche Weise könnte man die Malerei des in Kroatien geborenen und in Bosnien-Herzegowina aufgewachsenen Schweizer Künstlers Velimir Ilišević charakterisieren: Eine Malerei, die mit gleicher gestischer Vehemenz ihre Motive aus dem üppigen Ölgrund herausschält und die sich genauso wenig um realistische Proportionen, Darstellungslogik oder Perspektive schert, wie jene von Georg Baselitz. Wie bei Baselitz kann die Wahl der Motive autobiografische Beweggründe haben, jedoch nicht nur.
Velimir Ilišević geht von seinem Erfahrungsraum aus, spielt auf kunsthistorische Vorbilder an und verfolgt seine Motive dann vor dem Hintergrund der Frage, was generell noch malbar ist und wie es möglich sein könnte, etwas vermittels der Malerei auf andere Weise zu zeigen, als es bisher der Fall war. In seinem Werk der letzten zehn Jahre hat sich ein überschaubarer Motivschatz angesammelt, der in steten Variationen wiederkehrt. Es sind dies der Stuhl, der Fisch, der Schuh, der Ziehbrunnen, der Zaun, die menschliche Figur, die Katze, der Baumstamm, der Rabe und das Haus. Die Gegenstände werden bewusst mit ihrem Artikel als Kategorien genannt, weil sie freigestellt, oft vor neutralem Hintergrund, ohne Überschneidung mit anderen Bildgegenständen schweben. So erscheinen sie als isolierte, existenzielle Chiffren und Erzählfragmente, in denen sich auf der inhaltlichen Ebene autobiografische Bedeutung konzentriert, während sie auf der darstellerischen Ebene Resultate einer permanenten malerischen Umwandlung sind, welche auf spielerische Weise das eine in das andere überführt.

Von der Erinnerung zur malerischen Reflexion

Die möglicherweise schmerzliche Erinnerung, beispielsweise hinter einem Bildmotiv wie dem blutroten Kinderschlitten auf weiss verschneitem Grund [Abb. 1] –­ zumal vor dem Hintergrund der tragischen Geschichte des ehemaligen Jugoslawien, wo der Künstler aufgewachsen ist –­, löst sich über mehrere Bilder hinweg auf in eine mittels Malerei geführte Reflexion über die zeichnerische rote Struktur vor weissem Grund. Am autobiografisch aufgeladenen oder zuweilen auch belasteten Motiv entzündet sich ein Denkprozess, welcher zu einer in Malerei geführten Reflexion über das Malen mündet. Schön verfolgen lässt sich dies am Motiv des Fisches, das 2002 im grossformatigen Gemälde Ziehbrunnen I­ S.R.231­ Wasser­ Vaterbild (Ölfarbe auf Leinwand, zweiteilig, 150 x 300 cm) auftaucht. [Abb. 2] Die autobiografische Bedeutung wird bereits im Titel deklariert und zeigt sich an den Bildgegenständen: Der Fischschwarm, der wie der dunkle Ziehbrunnen und rundliche, organische Büschel vor einer rosaroten Gitterstruktur vor hellgrünen Grund schweben, verweist auf des Vaters liebste Beschäftigung.
Das ganze Gemälde erscheint als ausgebreitetes Netz, in dem sich Fundstücke rund um das heimatliche Gehöft angesammelt haben, vergleichbar dem Gedächtnis, das sein Netz nach Erinnerungsfragmenten auswirft, welche ohne kausalen Zusammenhang nach rein abstrakten Gesichtspunkten zusammenfinden können. Die absurde Aufreihung von Elementen, welche der Darstellung eine traumähnliche Atmosphäre verleiht, kann aber auch als Konsequenz einer malerischen Kombinatorik verstanden werden. Jeder Gegenstand ist mit einer anderen charakteristischen Handbewegung gemalt: während mittellange Pinselschwünge die Schuppenstruktur und sogar die verborgenen Gräte der Tiere andeuten, entstehen die pflanzlichen Gebilde und der archaische Brunnen aus kurzen, wirbligen Strichballungen, welche sie zum Pulsieren bringen. Durch diesen Einsatz der Mittel werden die Gegenstände gleichzeitig als abstrakte Bildzentren lesbar, in denen sich formale Energien konzentrieren, welche mit der krakeligen Gitterstruktur des Hintergrundes kontrastieren. Aus solchen Gegenüberstellungen spricht die reine Mallust, das Vergnügen am Malakt an sich und gleichzeitig das Ansinnen, dem emotional besetzten Thema in der malerischen Umsetzung pure Sinnlichkeit zu entlocken, welche mögliche semiotische oder psychologische Erwägungen in phänomenologische Direktheit ummünzt.

Tod und Leben

Als Todesmotiv kehrt der Fisch ein Jahr später im Gemälde Baum­ Toter Fisch (2003, Öl auf Pressplatte, 110 x 110 cm) wieder. [Abb. 3] Diesmal schwimmt ein einzelner Fisch mit dem Bauch nach oben vor einem angedeuteten Baumstamm, aus dem einzelne grüne Blätter spriessen. Die netzartige Gitterstruktur hat sich in einen vielfältig geschichteten monochromen Hintergrund verflüchtigt. Zur motivischen kommt die farbliche Verknappung zu Rosa, Grün und Schwarzblau hinzu. Die surreale Begegnung zwischen Fisch und Baum ist inhaltlich schwer zu erklären; sie muss aus der steten Verwandlung der Gegenstände in andere Motive abgeleitet werden. Mit seiner süsslichen Fleischfarbigkeit erlaubt das Gemälde die Umdeutung des Baumstamms zum menschlichen Leib. Dies ist deshalb nicht abwegig, weil Ilisevic ein Jahr später das Thema nochmals aufgreift und in Schwarzer Fisch (2004, Öl auf Leinwand, 33 x 33 cm) einen schwarzen Fisch grün umkränzt und darüber zwei rosa-grüne Kugeln setzt. [Abb. 4] Auch hier lässt sich das Bild nur dank dem Hinweis im Titel verstehen, denn stärker noch als an ein Arrangement mit Fisch erinnert es an ein grotesk geschminktes Gesicht mit schwarzem Mund oder an einen weiblichen Körper mit runden rosa Brüsten und einem fischartigen Geschlecht. Die Verbindung zwischen Fisch und Vulva wird ja nicht zuletzt durch sprachliche Metaphern nahe gelegt.

Aus der Assoziation zum männlichen Tätigkeitsbereich des Vaters löst sich das Bildmotiv Fisch langsam und wandelt sich zu einem Symbol, das zunehmend mit weiblichen Eigenschaften in Verbindung gebracht werden kann.
Diese Entwicklung wird in Neuer Fisch (2004, Öl auf Leinwand, 150 x 150 cm) vollzogen: Darin hängt ein senkrecht nach oben strebender Fisch saugend an einer prallen Brust. [Abb. 5] Schwarz hebt sich die eigenartige Konstellation vor einem leuchtend-grünen Farbfeld ab, das von einem fleischlich-rosa Grund umfangen wird. Die farbliche Reduktion sowie die ungelenke, impulsive Pinselhandschrift evozieren eine archaische Ur-Szene: die Nährung des ersten Fisches, der mögliche Anfang einer Schöpfungsgeschichte, aber auch­ – vor autobiografischem Hintergrund – die Begegnung von väterlicher mit mütterlicher Sphäre auf eine zugleich aufreizende und absurd-ernsthafte Weise, wie es nur in einem Traum oder in einem Mythos möglich wäre. Wieder trifft auch auf Ilišević zu, was Siegfried Gohr über Baselitz, beziehungsweise dessen Helden-Bilder formuliert hat, dass nämlich dessen Bildgegenstände: «nicht als Symbol für etwas [stehen], sondern Allegorien für die Situation des Künstlers in seiner gelebten Zeit [sind]. In diesen Werken kommt nicht etwas zum Abschluss und Ausgleich wie im Symbol, sondern es bleibt die Offenheit, das nicht Erfüllte der Allegorie ein zentrales Anliegen, später auch ihr Fragmentarisches, in das sich die psychologische Substanz der Sehnsucht einnisten kann.» Die allegorische Offenheit ergibt sich aus der lebendigen Binnenstruktur, welche die einzelnen Bildelemente nicht nahtlos verschmilzt und organisch auseinander erwachsen lässt, sondern die Aufmerksamkeit des Betrachters zwischen der Wahrnehmung des Ganzen und der Sinnlichkeit der Malmaterie zum Pendeln bringt.

Sehnsucht und Struktur

Die Sehnsucht kann Antrieb zu solchen Bildfindungen sein und lässt sich in Neuer Fisch in vieler Hinsicht denken: Sehnsucht nach nicht versiegender körperlicher oder geistiger Nahrung, Sehnsucht nach sinnlicher Ganzheit, nach kreatürlicher Einfachheit, eingebunden in einen unversehrten und paradiesisch fruchtbaren Lebensraum. Weitere Impulse zur Bildgenese gibt die assoziative Denkweise des Künstlers, die sich unbekümmert –­ da Deutsch nicht seine Muttersprache ist –­­ an sprachlichen Ungereimtheiten und Vieldeutigkeiten entzündet. So etwa in der jüngsten Serie von Zeichnungen, den Brüstungen (2008, Tusche und Ölpastell auf Papier, unterschiedliche Formate). [Abb. 6-9] Darin kehrt die weibliche Brust wieder, welche nun zu ganzen Trauben, ja Batterien von Brüsten, die zum Teil an Ästen hängen, gebündelt wird. Die charakteristischen spitz zulaufenden Rundformen bilden unregelmässige Ballustraden, die als Rapport über den weissen oder schwarzen Grund führen. Sie erinnern an die vielbrüstige antike Göttin Artemis von Ephesos, welcher als Attribut der Fruchtbarkeit Schweinsblasen umgehängt wurden. Der Künstler verwirklicht sich augenzwinkernd einen kindlichen oder kreatürlichen –­ denn es kommen vereinzelt auch wieder Fische vor –­ ­Wunschtraum. Gleichzeitig kehrt er zur Ausgangslage des ersten Gemäldes zurück, zumal die Brustform auch wieder als Gitterstruktur lesbar ist, welche sich über das Bildfeld legt. Das emotional besetzte Motiv wird durch die Art des Striches mit der Gesamttextur verwoben, womit seine formale Funktion ein knappes Gegengewicht zur überwältigenden Bedeutung des weiblichen Geschlechtsattributes bildet. Zentrale Aussage dieser Motivverwandlung bleibt jedoch die inhaltliche Abkehr vom vormaligen Todesmotiv, dem Fisch, hin zum Fruchtbarkeitssymbole, mit dem eine überzeugte Lebensbejahung einhergeht.