Ausschnitt aus “Hotel Nirgendwo”. Von Ivana Simić Bodrožić

Am Anfang waren die Leute aus Zagreb einfach die besseren Menschen für uns. Sie waren schöner angezogen, sie promenierten auf breiter angelegten Straßen und großen Plätzen, sie fuhren mit der Straßenbahn und machten dabei auch noch einen völlig gelassenen Eindruck, als würden sie nichts Besonderes tun. Sie besaßen Toaster und Spülmaschinen, und in ihren Zimmerecken waren jede Menge Spinnweben. So sahen wir sie. Bald fuhren auch wir mit der Straßenbahn, kostenlos, mit einem gelben Kärtchen. Wir prägten uns die Strecken einiger städtischer Linien ein. Ich konnte den ganzen Tag lang herumfahren und dabei Salzstangen essen. Wir mussten ständig in irgendwelchen Amtszimmern vorstellig werden, zum Roten Kreuz und zur Caritas gehen, um unsere Lebensmittel abzuholen. Ich fand das alles sehr schön. Einmal bekamen wir von der Caritas eine Tasche voll mit Süßigkeiten und schleppten sie nach Črnomerc zur Straßenbahn, die rappelvoll war. Eine fein hergerichtete Dame, die in unserer Nähe stand, sagte laut zu ihrer Freundin, die ganzen Flüchtlinge seien an dem Gedränge in der Tram schuld. »Sie fahren nur hin und her, den ganzen Tag lang geht das so, immer nur hin und her.« Ich sah zu ihr hin und lächelte sie an, denn ich wusste ja, dass wir Vertriebene waren und keine Flüchtlinge, so wie die Menschen aus Bosnien.
Nach zwei, drei Monaten Aufenthalt in Zagreb wurden ein paar Dinge schließlich für uns alle alltäglich. Es kam der Herbst, und die regnerischen Tage häuften sich. Langsam, aber sicher hörte das Ganze auf, für uns unterhaltsam zu sein. Die dreihundert Mark, die Mama mitgenommen hatte, waren inzwischen offenbar ausgegeben. Immer weniger Menschen kamen aus Vukovar heraus, die uns Nachrichten von unseren Verwandten überbrachten. Dann hörten wir eines Tages, die Alten seien umgebracht worden. So nannten wir Papas Eltern. Abgeschlachtet. Das war das Wort. Ich hörte es sehr deutlich, während ich mich hinter dem Elektroherd versteckte, der zwischen Flur und Küche stand. Ich denke, die Erwachsenen wussten, dass ich dort war, taten aber so, als hätten sie mich nicht gesehen, und ich tat so, als hätte ich sie nicht gehört. Dann wurden alle wieder sehr nett zueinander, und ich vergaß den Vorfall. Mama verschwand immer öfter im Bad und kam mit geschwollenen Augen heraus. Papa hatte schon eine ganze Weile kein Lebenszeichen von sich gegeben. In dieser Zeit beteten meine kleinere Cousine und ich ständig zu Gott. Wir knieten vor der Couch nieder und beteten, für alles, was uns einfiel, und zwar so lautstark, dass uns niemand, der sich in unserer Nähe befand, überhören konnte. Wir beteten für den Frieden, für die kroatische Garde, für die Stadt Petrinja, für Cäsar und Kleopatra. Dann machten wir einen Unsinn nach dem anderen und lachten uns krumm, da passten wir aber auf, dass uns niemand dabei beobachten konnte. Die Erwachsenen lobten uns für unsere Gebete, und ich erzählte allen, dass ich später Nonne werden wollte. Wir gingen sogar so weit, eine heilige Messe durchzuspielen.
Eines Tages platzte während einer unserer Séancen der Postbote herein. Er hatte einen Brief von Papa in der Hand. Er schrieb, dass es ihm gutgehe und dass er nicht verwundet sei, dass wir ihm sehr fehlten und wir uns alle bald wiedersehen würden. Die Erwachsenen befanden, dies sei ein gutes Zeichen, und wenn irgendjemand die Männer aus dieser Hölle befreien könne, so seien es unschuldig betende Kinder wie wir. Wir waren stolz auf uns. Ein paar Tage später verguckte ich mich in Luka. Er war meine erste Liebe, obwohl er in eine höhere Schulklasse ging. Ich gab damals die Sache mit der Nonne auf, aber noch lange danach betete ich ergeben zu Gott.

Ivana Simić Bodrožić: Hotel Nirgendwo. Wien 2012.