DIE BESTE ALLER WELTEN? Von SRETEN

Ich tauche aus dem Wasser auf und schwimme Richtung Strand unterhalb des Casinotheaters. Ich gehe hinüber zur Seilbahn und fahre auf die Spitze des Zugerbergs. Im Schwarm mit jungen Paraglidern stosse ich mich ab, mitten in die durchsichtigen Weiten über dem See. Wir kreisen über Zug in der Abenddämmerung. 5000 Meter über uns schneiden Jagdflugzeuge der Schweizer Luftabwehr mit Überschallgeschwindigkeit und in perfekter Deltaformation den Himmel in Stücke. Die kokainweissen Linien von gefrorenem, verbranntem Kerosin verschwinden nach wenigen Augenblicken wieder, hinterlassen keine Narben am Schweizer Himmel. Darüber ist nur noch eine Wirklichkeitsebene – Gott, der Allmächtige. Die Schweizer Bundesverfassung beginnt mit der gleichen Präambel wie die iranische Verfassung: „Im Namen Gottes des Allmächtigen!“

Zug ist stolz auf sein offizielles Zertifikat für den schönsten Sonnenuntergang Europas. Trotzdem, schauen wir genauer hin. Der Kanton Zug hat den niedrigsten Steuerfuss der Schweiz, das wissen alle. Wie die hiesige Verfassung beginnt, wissen hingegen nur wenige.

Über diese Kluft denke ich nach, während ich über Zug gleite: den unfassbaren Zusammenhang zwischen dem Allmächtigen, der in den Himmeln über allem thront und dem niedrigsten Steuersatz, der unten auf der Erde alles vergoldet. Wegen dieser Kluft leben und bezahlen hier, im Städtchen mit 20‘000 Einwohnern, Angehörige von über 180 Nationalitäten aus aller Welt die tiefsten Steuern der Schweiz. Wo sonst gibt es eine so kleine Stadt mit einer so grossen Anzahl von Maseratis, Ferraris, Bentleys, Porsches, Lexus‘, Aston Martins, Lamborghinis….. Und nun lebe auch ich seit über drei Monaten in Zug. Ich spaziere, schwimme, träume, schwebe, schaue um mich, berühre, höre, aber ich kann es nicht glauben.

Für mich ist der Kanton Zug der exotischste Ort der Welt. Die Exotik von Dschibuti, Myanmar, Sumatra, des Feuerlands, der mongolischen Steppen, der Bahamas, von Tasmanien, Gabun, Togo – all das ist interessant und ungewöhnlich, vielleicht auch mystisch, kommt aber dem Unwirklichen und Unmöglichen, das der Alltag in Zug verkörpert, nicht einmal ansatzweise nahe. Ich bewundere die Art und Weise, wie hier alles funktioniert, bewundere den Anstand und die Rationalität, die Präzision, die Zuverlässigkeit und Unaufdringlichkeit – mit einem Wort, die Perfektion. Für jemanden wie mich, der herkommt, wo er herkommt, und der weder weiss, was er soll, noch wohin er soll – für jemanden wie mich ist diese Perfektion unwirklich, unbegreiflich.

Ich bin Zug dankbar für das, was es mir bietet, aber ich muss mich fragen: wie ist das möglich? Dass alles rational, funktional ist, dass alles seinen Grund hat, alles abgemessen, alles erneuert und herausgeputzt, alles glatt und ordentlich ist, dass alles angemessen, alles korrekt ist, dass alles sicher, beruhigend, vorhersehbar, nützlich, bequem ist, dass alles intelligent, dass alles das Beste seiner Art und natürlich das Teuerste der Welt ist.

Alles glänzt in Zug und alles ist pünktlich und alles ist voller Respekt und alles ist zum Greifen nahe. Alles ist da, ausser Minarette. Jeder Kirchturm, jeder Grashalm scheint an seinem Platz zu sein, und jede Kirsche scheint saftig und jede Treppenstufe scheint ganz und jedes Hindernis scheint überwunden und jedes Missverständnis scheint im Voraus ausgeräumt zu sein …. Die Vollkommenheit und die Beständigkeit der Wirklichkeit gewordenen Utopie.

Grosses Geld, ein niedriger Steuerfuss. Eine grosse Illusion, eine kleine Chance, egal, für welche Veränderung. Ich bin Zug dankbar für das, was es mir bietet, aber ich muss mich fragen: wie ist Zug möglich? Weil die Schweiz möglich ist. Wie ist die Schweiz möglich? Weil unter anderem das Bankgeheimnis möglich ist. Aber über Zug schweben ist nicht die günstigste Position, um darüber nachzudenken, was das verfassungsmässig garantierte Bankgeheimnis versteckt. Wenn er Gott herausfordert, hat ein Paraglider minimale Chancen. Die Schweiz ist möglich, weil die gesamte Geschichte Europas möglich ist. Das, was die Schweiz für den Rest Westeuropas ist, ist Zug für den Rest der Schweiz. Ist mehr möglich als das? Kaum. Heisst das dann, dass wer in Zug lebt, in der besten aller Welten lebt?

Mit mir im Schwarm schweben junge Männer und Frauen. Ich komme auf den Gedanken, dass sich die Jungen hier gegen nichts auflehnen müssen. Gibt es eine Gesellschaft oder ein System, das besser ist als dieses hier, und in dem es sich mehr lohnen würde zu leben? Für Junge in der Schweiz ist das unvorstellbar. Und erst recht für die Jungen in Zug! Durch diese Vollkommenheit ist ihre politische, gesellschaftliche, ökonomische und kulturelle Vorstellungskraft amputiert … Eine Jugend, die sich keine Gesellschaft oder Kultur vorstellen kann, die ihnen besser entspricht, als diese, in der sie aufwächst, mit dieser Jugend kann doch etwas nicht stimmen.

Ich bin Zug dankbar für das, was es mir bietet, aber ich muss mich fragen: wie kann man jung sein und nicht gegen etwas sein? Wie kann man jung sein und keine Veränderung wollen? Wie kann man jung sein und sich nicht die Freiheit vorstellen können? Wie kann man frei sein, wenn man sich nicht eine Welt vorstellen kann, in der es uns besser ginge als in der Welt, die uns als Aufgabe gestellt ist? Ist die verwirklichte Utopie gleichzeitig eine verwirklichte perfekte Anti-Utopie?