Ausschnitt aus „Vertraute Fremde“. Von László Végel

Wir schrieben das Jahr 1956, als mein Vater und ich uns auf unsere Fahrräder setzten und in das knapp dreißig Kilometer entfernte Újvidék radelten. Auf einem etwas abseits liegenden Plätzchen in der Stadtmitte bremste mein Vater unvermittelt ab. Mit starrer Miene blickte er auf ein Plakat mit einem Hakenkreuz. Ich stand verständnislos neben ihm. Der Anblick erinnerte mich an die Partisanenfilme, die wir in der Volksschule hatten anschauen müssen, um anschliessend Aufsätze darüber zu schreiben.

Ich erinnere mich noch heute lebhaft an die gelegentlichen Hakenkreuze in diesen Filmen, die erhitzten Gesichter, die geballten Fäuste und an das, was darauf folgte: der Siegestaumel. Die Partisanen errangen einen Sieg nach dem anderen, und wie alle anderen beendete auch ich meinen Hausaufsatz mit dem selbstbewußten Satz, das Gute habe über das Böse gesiegt.

Ratlos betrachtete ich die fassungslose Miene meines Vaters. Ich wußte nicht, was seine Erregung zu bedeuten hatte, denn in meinem kindlichen Verstand lebte die Überzeugung, daß die Partisanen sowieso immer gewannen. Er beruhigte sich erst dann wieder, als er erfuhr, daß auf dem Platz die Dreharbeiten zu einem Partisanenfilm vorbereitet wurden. Das Ereignis hatte in ihm wohl die Erinnerung an sein Anders-Sein geweckt, an die weiße Armbinde, die er 1944 hatte tragen müssen. Die auf dem realen Platz einer realen Stadt spielende Filmszene hatte ihn mit der ganzen Kraft der Wirklichkeit getroffen; für mich hingegen gab es nur den Film in der Wirklichkeit, den Film, in dem das Gute zwangsläufig über das Böse siegen würde.

Über einen kleinen Umweg erreichten wir schliesslich das alte Gebäude, in dem sich das während der österreichisch-ungarischen Monarchie erbaute Gymnasium befand. Mein Vater war mit mir nach Újvidék geradelt, um an den Feiern zum Beginn des Schuljahres teilzunehmen und sich die Begrüßungsansprachen anzuhören. Bei meiner Anmeldung im Frühjahr hatte es auf der Namenstafel an der Eingangspforte noch geheißen Pál Papp Ungarischsprachiges Gymnasium; zum Unterrichtsbeginn im Herbst hatte man die Tafel jedoch durch eine neue mit der Aufschrift Moše Pijade Gemischtsprachiges Gymnasium ausgetauscht. Wir verhielten uns beide so, als wäre nichts weiter geschehen, und genauso verhielten sich auch die anderen anwesenden Eltern, meine zukünftigen Klassenkameraden und meine Lehrer.

Warum hätte man die Sache auch zur Sprache bringen sollen? Pál Papp war ein Kommunist und Antifaschist, der nach dem Einmarsch Miklós Horthys und der ungarischen Armee von den ungarischen Behörden hingerichtet worden war, während der jugoslawische Antifaschist Moše Pijade als führende Persönlichkeit der kommunistischen Nomenklatur galt. Beide waren Kommunisten und Antifaschisten – wie meine ganze Umgebung. Bei den zahlreichen Feierlichkeiten sangen wir eifrig das Lied, daß in Amerika und England bald das Proletariat regieren und die Wahrheit siegen würde.

Wir waren alle Kommunisten, selbst die, die nicht über ein Parteibuch verfügten. Das war nicht bloße Politik, sondern authentisches Lebensgefühl. Die Welt war wie ein Film, in dem sich die Guten und die Bösen gegenüberstanden, und alles, was anders war, verdächtig war. Der Schatten der Stigmatisierung fiel auf jede Form von Anders-Sein.

(…)

Nahezu vier Jahrzehnte später, zu Beginn der neunziger Jahre, verwandelte sich die überwiegende Mehrheit der einst so begeisterten Titoisten in militante Anti-Titoisten. Moše Pijades Namenstafel wurde von der Wand des Gymnasiums entfernt – wegen seiner Serbenfeindlichkeit, wie die kämpferischen Antititoisten erklärten. Demnach war er – und somit auch Tito – nicht würdig, daß ein Gymnasium seinen Namen trug. Moše Pijade sei außerdem Jude gewesen, winkten sie ab. Aber nicht dass jemand dächte, sie seien Antisemiten, nein, bloss keine Missverständnisse aufkommen lassen!, rechtfertigten sie sich vorsichtshalber. (Man muss wissen: Dieselben Serben legten 1992 im Namen des Patriotismus das kroatische Vukovar in Schutt und Asche). Aber auch Pál Papp hätte kein besseres Schicksal erwartet: Auch er sei Kommunist gewesen, hiess es, was soviel bedeutete wie Jude. Auch er sei unwürdig, Namenspatron eines Gymnasiums in Újvidék zu sein, behaupteten die einst kommunistischen Ungarn, die von einem Tag auf den anderen Horthy zu verherrlichen begannen.

(…)

In unserer neueren Geschichte empfiehlt es sich, dem Anderen in der ostmitteleuropäischen und südosteuropäischen Welt mit Toleranz zu begegnen. Das Fremde sei schön, wird behauptet, aber nur solange es fern, also unbekannt ist. Dieses Unbekannte ist zwar nicht mehr so exotisch wie noch im 19. Jahrhundert, aber wir tun so, als wäre es exotisch. Wir sind dazu verurteilt, täglich übereinander zu stolpern.

Um dem Durcheinander ein Ende zu setzen, ist das geistige, kulturelle und politische Leben organisiert wie ein multinationaler Konzern, in dem alles miteinander verknüpft ist. Denn obwohl es sich ziemt, die Globalisierung abzulehnen, gilt es, ihre Regeln einzuhalten. Auf internationalen Literatursymposien würdigt das eine andere das andere andere, obwohl sie einander immer ähnlicher werden. Die gleichen Speisen, die gleiche Mode, die gleichen Technologien, die gleichen Literaturströmungen, der gleiche Diskursjargon. Der Dialog über das andere dient dem Zweck, Distanz zum anderen zu halten; es geht darum, die Repräsentanten der nationalstaatlichen Zentren, das authentische andere, zu würdigen, und bei dieser Zeremonie entsteht dann die „bunte Einfarbigkeit“ – denn schließlich wird das andere durch die repräsentativen Vertreter der Nationalstaaten symbolisiert, das heisst, es existiert nur eine einzige authentische Form kultureller Narration: die nationalstaatliche. Und damit schließt sich der vermeintlich kosmopolitische, europäische Kreis.

 

László Végel: Vertraute Fremde. In: Der andere nebenan. Eine Anthologie aus dem Südosten Europas. Herausgegeben von Richard Swartz. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007.