Velimir Ilišević, neue Arbeiten

Das Balkanpendel – Velimir Ilisevics neue Malerei

13. Januar 2013 

Oelfarbe auf Leinwand, 180 x 180 cm

„Flussentlang“, Oelfarbe auf Leinwand, 180 x 180 cm

Oelfarbe auf Leinwand, 180 x 180 cm

„Eschenstock“, Oelfarbe auf Leinwand, 180 x 180 cm

 

Oelfarbe auf Leinwand, 180 x 180 cm

„Eschenstock“, Oelfarbe auf Leinwand, 180 x 180 cm

Erinnerungsfetzen
Mitzuteilen, was man sieht, schafft Orientierung und Verständigung. Diese Informationen verraten jedoch oft mehr über den, der sich äussert, als über das, was dieser sieht. Noch schwieriger wird es, wenn wir, losgelöst von der Person, nur noch die Gegenstände vor uns ausgebreitet finden, die sich irgendjemand bei einem Gang durch die Welt eingeprägt hat. Wir wissen nicht, warum gerade dies oder jenes mitgeteilt wird. Dass die Begegnung mit einem isolierten Gegenstand unvermutet zum Rätsel werden kann – diese Erfahrung wird vor jedem Bild Velimir Ilisevics neu zur Gewissheit. Denn die Bilder lassen uns auch in Bezug auf die Hintergründe, auf denen das Fragmentarische erscheint, fast durchwegs im Ungewissen. Es ist etwas da, das ist alles, worüber Sicherheit besteht: Ein Kinderschlitten, ein Gummiboot, zwei Stiefel, drei schwarze Kohlebügeleisen, ein Anzahl Fische, eine Axt, Herzhälften … Kommt hinzu, dass alle diese Objekte ihre Autonomie eingebüsst haben. Sie treten nicht als Körper im Raum in Erscheinung, wie zum Beispiel ein Schlitten, den man von der Seite sieht, denn prinzipiell gesteht dieser Maler seinen Gegenständen keine Räumlichkeit zu. Genau genommen malt er sie durchwegs als ausgeschnittene Flächen. Stets sind sie so wiedergegeben, wie man sie aus grosser Distanz von oben sehen würde, als ausgefranste Flecken, deren flackernde Beschaffenheit an die nervösen Fingerabdrücke auf Alberto Giacomettis späten Plastiken erinnert. Verloren gehen mit dem Entzug der Körperlichkeit auch die physikalischen Eigenschaften. Das Glätteisen wirbelt auf der gestisch bewegten Bildstruktur wie ein Blatt im Wind, und die Stiefel treiben auf den Kopf gestellt auf gekräuselten Farbwellen Wasservögeln gleich in starker Strömung.
Velimir Ilisevic ist nicht der erste Maler, der der Welt Gegenstände entnimmt und sie als körperlose Erinnerungsfetzen auf gestisch-abstrakten Malgründen stranden lässt. Einer der Künstler, an den diese Malerei erinnert, ist Philip Guston, ein anderer Georg Baselitz. Doch tritt Ilisevic diesen Vorgängern nicht als Adept entgegen, sondern als einer, der aus seiner persönlichen Geschichte heraus zu analogen Schlüssen gelangt ist und diese kraftvoll eigenständig neu zu formulieren weiss.

Unabhängigkeit
Die Benennung der Bildgegenstände auf Ilisevics Gemälden und Aquarellen verringert die Distanz zum Wesenskern seiner Kunst in keiner Weise; ebenso wenig das Anführen von Künstlernamen, die bei der ersten Sichtung seinen Werken als mögliche Vorbilder dienten. Und wie steht es mit der Verortung in der jungen zeitgenössischen Malerei? Auch hier gibt es kaum Positionen, die Ilisevics Malerei wirklich nahe kommen. Vor allem ihr prekäres Balancieren auf Messers Schneide zwischen Abstraktion und Figuration verleiht ihr – in dieser Ausprägung – Einmaligkeit. Diese Malerei ist immer beides gleichzeitig: abstrakt-expressive Strukturfeldmalerei und assoziative Objektvergegenwärtigung – nicht im abbildendend-illusionistischen Sinne, sondern als ein gerade noch entzifferbares Zeichen. Dabei stehen die Piktogramme, die dieser Künstler malt, der Höhlenmalerei von Lascaux mit Bestimmtheit näher als irgendeinem Zeichensystem unserer Gegenwart.
Ilisevic ist als Künstler ein wirklich Unabhängiger.

Herkommen
Einen wesentlichen Teil seiner Selbstständigkeit verdankt Ilisevic seiner Herkunft. Geboren 1965 in Sisak (heute Kroatien), kam er vor dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens und den nachfolgenden Balkankriegen in die Schweiz. 1992 besuchte er in Zürich den Vorkurs in der Schule für Gestaltung. Da er erst 2010 Schweizer Bürger werden konnte, waren Reisen vor diesem Datum nur illegal möglich. Dazu entschloss er sich, um in Amsterdam und Otterlo die Werke Vincent van Goghs studieren zu können. Seit knapp fünf Jahren lebt er mit seiner Familie abseits der Kunstszene in Stein am Rhein. Unabhängig zu sein, ist ihm lebensnotwendig. Erfolg bedeutet Kampf um Anerkennung. Galerien, Ausstellungen und Museen müssen regelmässig besucht, Beziehungen aufrechterhalten werden. All diesen Aufwand zu leisten, ist dem Künstler als Ablenkung von seiner Arbeit zutiefst verhasst. Er ist deshalb, nicht als Mensch, sondern als Künstler ein ausgesprochener Einzelgänger.

Magische Augenblicke
Kreativität heisst für Ilisevic, Bildmotive aufzuspüren, die ihm frühe, prägende Lebenseindrücke in konzentrierter Form vergegenwärtigen, um sie in einem zweiten Schritt in seiner Malerei neu zu realisieren. Ilisevic ist wie Robert Walser ein zielloser Spaziergänger, der so lange umherstreift, bis er plötzlich vor dem steht, was andere überschauen, er jedoch als Offenbarung empfindet. Nur das ziellose Unterwegssein dem «Flussentlang» führt zur Entdeckung des magischen Augenblicks, in dem im Aussenbild das Erinnerungsbild aufblitzt. Dieser entscheidende Moment ist extrem flüchtig. Fotografisch liesse er sich kaum einfangen. Ilisevic ist denn auch kein Fotojäger, der auf der Lauer liegt, um das entscheidende Bild schiessen zu können. Er hält seine Eindrücke höchstens in wenigen Bleistiftstrichen fest, die ihm später im Atelier als erste Orientierungspunkte für ein Gemälde dienen können. Denn das Malen selbst dient ihm als entscheidendes Instrument, um das meist mehr Erahnte als wirklich Geschaute zum realen Bild werden zu lassen. Doch wie all diese extrem instabilen Erscheinungen in ein gemaltes Bild überführen? Die Blüten, die in der Strömung treiben, die Forellen, die in der Tiefe vorbeiflitzen, die Wolken, die sich im bewegten Wasser spiegeln, die Blätter an einem Strauch im Wind?

Wie van Gogh
Velimir Ilisevic antwortet auf die Geschwindigkeit, mit der sich ihm das aufscheinende Wunder offenbart und im nächsten Augenblick wieder entzieht, mit Gegengeschwindigkeit. Er malt schnell, ohne je zu zögern, getrieben von einer Vision wie sein grosses Vorbild Vincent van Gogh. In hastig hingesetzten pastos-breiten Pinselstrichen setzt er Bewegungsimpuls neben Bewegungsimpuls. Die Malfläche ist immer offen wie eine Ebene, über die Windböen ziehen. Die Pinselstriche fügen sich immer nur widerwillig zu Flächengebilden, die als eindeutige Gegenstandszeichen gedeutet werden können. Sie bilden mit den Zwischenpartien vielmehr einen unregelmässigen, heftig bewegten netzartigen Strukturverband. Manchmal bleiben auf seinen Bildern sogar ganze Bahnen der Leinwand unbemalt. Mit diesen Strategien wird manifestartig demonstriert, dass sich uns gegenüber keine Illusion von Wirklichkeit wie ein Fenster auftut. Vielmehr setzt das Bild die vitale Realität einer grundsätzlichen malerischen Strategie in Szene, die mit der Setzung expressiver Farbgesten operiert, von der sich wie Einfärbungen Gegenstandsflecken abheben.

Im freien Fall
Da die Gegenstände als reine Flächenmuster und ohne jede zentralperspektivische Orientierung auf den Grund gesetzt sind, bleibt es vollkommen offen, ob sich eine Szene frontal vor uns aufbaut oder ob sie aus der Vogelperspektive wiedergegeben ist. So bleibt auch unentscheidbar, ob etwas fest auf dem Boden steht, auf der Horizontalen schwebt oder wie eine Sternschnuppe im rasanten Fall an uns vorbei ins Bodenlose stürzt. Ilisevic malt Bilder, die verunsichern. Dazu gehört auch die malerische Realisierung. Da sich die Pinselstriche nie zu geschlossenen Oberflächen verbinden, sondern – wie auf einem massiv gestörten Fernsehbild der 1960er-Jahre – im Zustand flimmernder Auflösung verharren, ist auch die Frage der Distanz vollkommen offen. Unmöglich zu sagen, etwas sei ganz nah oder sehr fern.

Spolien
Ilisevics Bilder vergegenwärtigen malerische Tatsachen. Wie auf Cézannes Gemälden ist die Leinwand der Ort, auf dem sich Farben und Formakzente in jeder Hinsicht neuartig zu offenen, pulsierenden Flächenkompositionen verbinden. Irritierend ist, dass aus der Identifizierbarkeit einzelner Bildelemente kein zusammenhängendes Sinngefüge abzuleiten ist. Das, was sich auf den Gemälden und Aquarellen benennen lässt, spielt die Rolle von antiken Spolien in mittelalterlichen Stadtmauern. Wichtig ist die Mauer und nicht die in sie eingebaute Säulentrommel, die nur mehr als banaler Baustein dient. Was zählt bei Ilisevic, ist die strukturierte, von Energie aufgewühlte Malerei. Aber daraus zu folgern, der Gegenstand sei bloss Schall und Rauch, wäre ebenso falsch, wie wenn man den auf dem Kopf stehenden Adler auf einem Gemälde von Georg Baselitz als ungegenständliches Tapetenmuster abtäte. Denn Ilisevic tut alles, damit das Fragment die Sprache nicht verliert.

Exorzismus
Baselitz treibt den umgedreht dargestellten Motiven durch die exorzistische Energie des Malaktes ihre ursprüngliche Bedeutung aus. Er reduziert sie auf ihre blosse Hülle, über deren ursprünglichen Sinn neu gedacht werden soll. Analoge Prozesse durchlaufen Ilisevics Gegenstände, und seiner Arbeit liegen oft individuell erlebte Kriegserfahrungen von allgemeiner Relevanz zugrunde. Seine Familie erfuhr den Schrecken des Terrors während der Balkankriege in den 1940er- und 1990er-Jahren am eigenen Leib. Die Grossväter und Onkel des Künstlers waren während des Zweiten Weltkriegs Partisanen. Grossmütter, Tanten und auch die Eltern wurden in Konzentrationslager eingesperrt. Viele Familienmitglieder haben den Terror nicht überlebt. Diese Traumatisierung belastete die Familie enorm. Während der Kriege in den 1990er-Jahren war Ilisevic in der Schweiz. Von der Angst, dem Schmerz, dem Hunger und der Angst, denen seine Angehörigen damals erneut ausgesetzt waren, war er, wiederum indirekt, sehr stark betroffen. Vor diesem Hintergrund erhalten die Bilder, die dieses Buch vereint, ihre existentielle Tiefe.

Schlachtfeld
Das Bild Schlitten, 2010, zeigt einen schwarzgrünen Kinderschlitten, darüber zwei ebenfalls schwarzgrüne Baumstümpfe, die auch abgeschossene Beine sein könnten. Dazwischen, auf dem wogenden Weiss des aufgepeitschten Grundes, lodern rote Flecken wie Spuren, die ein stark Verwundeter auf frischem Schnee zurückgelassen hat. Ilisevic dachte jedoch nicht an Blut, als er das Bild malte, sondern an Blumen oder Frauenbrüste. Wie klumpig-flüssige Überreste auf einem Schlachtfeld sind diese Formen ins kalte Weiss eingesickert. Viele Bilder lassen sich entsprechend verstehen. Beispielsweise Grösse 68 von 2012, das zwei kopfüberstehende Stiefel zur Darstellung bringt, über denen eine grüne dreireihige Kette hängt. Oder Baumschlag, ebenfalls 2012: Ob auf einem Schneefeld liegend oder in einem Schneesturm stehend oder stürzend sind zu orten ein blaues Beil, vier Äste oder Bäume und eine rote Spur. Schneeschmelze und Herz aus Liebe, beide 2012, sind ebenso rätselhaft: Da werden auf dem ersten Bild die drei schwarzen Kohlenbügeleisen seiner Grossmütter auf Strohbetten und grünen Zweigen präsentiert, die wie lecke Rettungsboote im brühig schmutzigen Weiss des «Schneesturms» versinken. Ebenso enigmatisch ist Herz aus Liebe, wo grüne Zweige über zwei zerbrochenen Herzhälften auf blau kaltem Weiss ausgebreitet sind. Diese aufgepeitschte Malerei evoziert einen in der Vergangenheit liegenden Schrecken und macht ihn auch für Menschen erfahrbar, die nie persönlich damit in Berührung gekommen sind.

«Flussentlang»
In einer Reihe von Bildern, ist Ilisevic direkt von Eindrücken in seiner neuen Heimat inspiriert, wo er häufig am Fluss spazieren geht oder sich im Gummiboot bis nach Schaffhausen treiben lässt und vom Wasser aus die Uferböschung beobachten kann. «Flussentlang», diese poetische Wortschöpfung evoziert das Fliessen des Wassers, die Bewegung der Sträucher im Wind, zitternde Wolkenspiegelbilder, Fische im Schilf, tanzende Mücken und auch die Töne der Natur. Poetische Selbstvergessenheit, die Zeitlosigkeit eine Glücksmoments – dies ist der andere Pol in Ilisevics neuer Malerei. In den Bildern Flussentlang – Verlauf, Flussentlang – Brücke und Flussentlang – Spiegelung verliert das Weiss-Blau des Grundes seine Kälte. Es finden farbliche Verschiebungen in Richtung sanfter Morgenröte statt. Flüchtige Zartheit ist die Grundstimmung dieser Bildwelten.

«Blut & Honig»
Harald Szeemann zeigte 2003 eine Ausstellung über die junge Gegenwartskunst auf dem Balkan. Die widerstrebenden Kräfte, die in dieser Region seit Jahrhunderten aufeinanderprallen, hat er unter dem ungemein treffenden Titel «Blut & Honig» zusammengefasst. «Der Titel», so hat er in seiner Einleitung zum Katalog geschrieben, «evoziert die Pole von Zorn und Zärtlichkeit, Katastrophe und Idylle, von zutiefst Menschlichem und Universalem.» «Blut & Honig», «Axt & Herz» – das Balkanpendel fällt auch auf Velimir Ilisevics Bildern unweigerlich von einem Extrem ins andere, womit er ins Zentrum unserer heutigen Existenz trifft.

Matthias Frehner