Ausschnitte aus “An den unbekannten Helden”. Von Sreten.

S. 21
Die Treppe ist lang und steil wie ein Wasserfall, wie ein Strom von Kaskaden, und irgendwo auf halbem Weg tauchen fluoreszierende, gesprayte Schriftzüge auf, ich lese sie mit jedem eurer Schritte. Der erste lautet: Serbien ist schaurig. Dann eine leere Treppenstufe. Dann auf der nächsten: Wie gut, dass es nicht existiert. Dann wieder eine leere Stufe. Danach:Serbien ist wunderbar. Dann eine Pause. Danach: Wie schade, dass es nicht existiert. Dann drei leere Treppenstufen. Auf der vorletzten steht: Gehorsam diene ich … Und oben angekommen: … dem Serbien in meinem Herzen. Die Treppen sind wie Bäche, Bäche der Begierde, die die silbriggrünen Glasfassaden der Ordnung und des Sinns herabstürzen. Einen Augenblick später seid ihr auf der Strasse, ihr schreitet gedankenversunken vorwärts, durch die Menschen, durch die Luft, durch die Gedanken, bis zur ersten Kreuzung. Dann nach links, hinunter zur Brücke, zum Wasser, zu mir.
Das Wasser ist da, um aus der Tiefe zu leuchten.

S. 37
Der Querschnitt eines Apfels legt einen fünfzackigen Stern frei. Der Längsschnitt des Apfels verdeckt den fünfzackigen Stern. Der Querschnitt eines Weihnachtsbaums legt eine Schneeflocke frei. Der Längsschnitt des Weihnachtsbaums verdeckt die Weihnachtsgeschenke. Der Querschnitt der Milchstrasse legt eine spiralförmige Himmelsrutsche frei. Der Längsschnitt der Milchstrasse verdeckt die spiralförmige Himmelsrutsche. Der Querschnitt eines Bleistifts legt eine totale Sonnenfinsternis frei. Der Längsschnitt des Bleistifts verdeckt die totale Sonnenfinsternis und legt einen dünnen Pfeil frei. Der Querschnitt einer weissen Taube im Flug legt Christus am Kreuz frei. Der Längsschnitt der weissen Taube ist tödlich, aber drei Tage später wird die weisse Taube wiederauferstehen. Der Querschnitt einer Frau im Koma legt das Leben frei. Der Längsschnitt der Frau im Koma verdeckt die Freudentränen. Der Querschnitt des Schwarzen Meeres in der Tiefe, zu der kein Licht vordringt, legt Schwärme fluoreszierender Quallen frei. Ein Längsschnitt des Schwarzen Meeres ist nicht möglich.

S. 60
Ich fahre bis zur letzten Haltestelle, die die erste ist. Hier muss ich aus der U-Bahn aussteigen, wieder hinaus auf die Strasse. Die Rolltreppe funktioniert nicht, ich steige zu Fuss hinauf, als würde ich auftauchen, hinein in das Morgenlicht der Welt und der Stadt. Die Treppe ist lang und steil wie ein Wasserfall, wie ein Strom von Kaskaden, und irgendwo auf halbem Weg tauchen fluoreszierende, gesprayte Schriftzüge auf, ich lese sie mit jedem meiner Schritte. Der erste lautet: Hallo. Dann eine leere Treppenstufe. Dann auf der nächsten: Hast du Lust zu ficken? Dann wieder eine leere Stufe. Danach: Ich dich oder du mich? Dann eine Pause. Danach: Ich dich? Dann drei leere Treppenstufen. Auf der vorletzten steht: Gehorsam diene ich … Und oben angekommen: … deinen Wünschen. Die Treppen sind wie Bäche, Bäche der Begierde, die die silbriggrünen Glasfassaden der Ordnung und des Sinns herabstürzen. Einen Augenblick später bin ich auf der Strasse, ich schreite gedankenversunken vorwärts, durch die Menschen, durch die Luft, durch die Gedanken, bis zur ersten Kreuzung. Ich gehe für dich.

S. 65
Die Wohnung liegt in Trümmern. Alle Sachen sind durcheinandergeworfen und zerbrochen, alle Wände abgewetzt und zerfurcht, alle Böden und Decken aufgerissen, alle Leitungen und Installationen entblösst und ausgerupft, alle Schlösser und Türgriffe herausgerissen, alle Geräte kaputtgeschlagen, die Eingeweide freigelegt, die lebensnotwendigen Organe verschwunden, die Vorhänge an den Ecken zerknittert, plattgetreten und schmutzig, alle Betten auseinandergenommen und an die Wand geworfen, alle Spielzeuge liegen jedoch ordentlich aufgeräumt in einer Kartonschachtel, um die eine Seidenschleife mit dem Schriftzug des GDÖP, des Geheimdienstes und der Öffentlichen Polizei gewickelt ist. Im Nebenzimmer schluchzt jemand. Und kratzt mit den Nägeln an die Tapete. Hör auf damit, denke ich. Die Schluchzer hören auf. Hör auf damit, denke ich wieder. Das Kratzen hört auf. Hör auf damit, denke ich. Im Nebenzimmer ist niemand mehr. Dann gehe ich hinaus, stürze die Treppe hinunter, wie ein Bach durch das Grün, auf der Strasse sind scheinbar die gleichen Geräusche, die gleichen Gerüche, die gleichen Leben, die gleichen Wahrheiten, die gleichen Giftstoffe, die gleichen Ströme in den Fernleitungen, die gleichen Düsenflugzeuge in der Höhe, die gleichen Minerale im Asphalt und im Beton und in unseren Knochen, du bist der Gleiche in mir, in Gedankenschnelle mitten ins Knochenmark eingebaut, scheinbar der gleiche Tag, das gleiche pulsierende Protoplasma.

Sreten Ugričić: An den Unbekannten Helden. (Übersetzt von Maša Dabić).
Dittrich Verlag, Berlin 2011.